„Risse“

In der neuen Ausgabe der Rostocker „Risse“ (Heft Nr. 36 mit dem Schwerpunktthema: Schweigen) Teil 1 eines Essays von Bertram Reinecke über „Das Jahr der Lyrik in der Kritik. Parteiische Thesen und kritische Ausschweifungen“ (Fortsetzung im nächsten Heft). Ich zitiere einen Passus über Jan Wagner:

Seinen vorherigen Band Die Eulenhasser in den Hallenhäusern habe ich mit größtem Interesse studiert. In dem Buch erfindet er gleich drei Alter Ego, drei fiktive Dichter, zu denen teils eigens von ihm miterfundene Literaturwissenschaftler Vorworte und Kommentare verfassen. Dazu gibt es auch ein zwar mit Jan Wagner gezeichnetes Vorwort, das streng genommen ein weiteres Alter Ego enthält, denn es behauptet hier, drei Dichter der Vergessenheit zu entreißen, die er in Wirklichkeit erschuf. Diese Anordnung lässt sich als köstliche Spielerei für findige Leser auffassen. Sie ist aber mehr: Allein die gelehrten Kommentare decouvrieren, ohne direkt auf Lustigkeit oder Pointen abzuzielen, literaturwissenschaftliche Lesegepflogenheiten. (Teils etwa sinkt ihnen der Autor zum Stichwortgeber für feine Bildungsanekdoten herab.) Dass sie an einem erfundenen Gegenstand quasi leerlaufen, zwingt dazu, sie als das zu sehen, was sie, gern unter dem Gestus wissenschaftlicher Autorität verborgen, auch sind: ein Set von etablierten Gewohnheiten. (…)

Wagners Regentonnenvariationen mögen ein guter Band sein, er mag vielleicht sogar insgesamt mehr „gelungene“ Gedichte enthalten, ist allerdings für seine Leser ohne größere Überraschungen. Stimmung und Tonlage bewegen sich mit leichten Verschiebungen im bewährten Wagneruniversum. Die Eulenhasser in den Hallenhäusern zielt weiter und birgt überraschendere Ergebnisse. Um es mit Ulf Stolterfoht (der sich freilich zu ganz anderen Texten äußert) zu sagen, es geht um einen Einspruch gegen das falsche Gelingen in einer Zeit allgemeinen Gelingens auf hohem Niveau (Münchner Rede zur Poesie, 11.11.2015). Ein Gedicht wird interessanter, wenn es eine Aufgabe findet, an der es auch scheitern kann. Wagner stellt sich zu guter Letzt aber auch noch auf eine andere Weise zur Disposition: Weil er in den pseudogermanistischen Kommentaren seinen ganzen Erfindungsreichtum präsentiert, quasi den Hallraum ausschreitet, zeigt er, in welchen möglichen Diskursen und Weiterführungsräumen er seine Lyrik denkt, während die Lyrikkritik immer wieder suggeriert, ihre Kriterien würden nicht aus Umgangsformen mit Gedichten entwachsen, sondern die Maßstäbe fielen irgendwie unveränderlich vom Himmel. In der Kritik kam der Eulenhasserband deshalb kaum über ein distanziertes „Ja, aber“-Lob hinaus, auch wenn die meisten Kritiker einräumten, dass sie den Band eigentlich sehr gern gelesen hätten.

Weiter im Heft (Auswahl): Gedichte von Kurt Scharf, Tobias Reußwig, Christoph Rohrbach, André Hatting, Prosa von Jürgen Landt, Kritiken zu Ulf Stolterfoht, Siegfried Pitschmann, Sascha Reh und Frank Witzel.

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