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Iris Radisch sprach in Paris mit dem aus Syrien stammenden Dichter Adonis. 2 Auszüge:
DIE ZEIT: Erinnern Sie sich noch? Es gab einmal eine Zeit, die noch gar nicht so lange vorbei ist, da bewegten sich die arabischen Frauen frei im öffentlichen Leben, sie trugen schöne Kleider, sie studierten. Heute sind sie unsichtbar, versteckt, verschleiert. Wo ist die arabische Modernität geblieben?
Adonis: Es hat nie eine arabische Modernität gegeben. Gesellschaften, die sich auf ein religiöses Menschenbild und eine religiöse Weltsicht gründen, können nicht modern sein. Die arabische Moderne gab es nur zum Schein, die Autos, die Kühlschränke, die Flugzeuge, die schönen Kleider waren nur Dekoration.
ZEIT: Orientreisende der achtziger und neunziger Jahre wie der deutschiranische Schriftsteller Navid Kermani berichten von der weltoffenen, multikulturellen arabischen Kultur jener Jahrzehnte, die nun verloren sei.
Adonis: Diese Freiheit war nur eine Fassade, die keine Bedeutung hatte. Sie war nichts als eine Mode. (…) Im Libanon, in Syrien, in Ägypten, im Irak hat es nie eine Verbesserung der Lage der Frauen gegeben. Dazu müsste man die Familienstrukturen verändern, die Frauen müssten über sich selbst bestimmen, eigene Entscheidungen treffen und ihr Leben, auch ihr Liebesleben, selbst entwerfen dürfen. Das alles hat es nie gegeben. Die sogenannte arabische Modernität war eine rein oberflächliche Nachahmung des westlichen Lebens. Die Regime, denen sie sich verdankte, haben sich lediglich für ein paar Investmentfirmen geöffnet. Im Kern hat sich die arabische Kultur seit fünfzehn Jahrhunderten nicht verändert. Sie negiert die Freiheit des Individuums, sie negiert seine Rechte, sie negiert die Weiblichkeit. Jedes der angeblich moderaten arabischen Regime hat in allen wesentlichen Punkten die Herrschaftsweisen der Kalifen aufrechterhalten, auch wenn es das Land äußerlich in ein modernes Kaufhaus verwandelt hat. Es war der schlimmste Autoritarismus im Gewand einer sogenannten Freiheit.
ZEIT: Und seit fünfzehn Jahrhunderten hat die arabische Zivilisation sich nicht weiterentwickelt?
Adonis: Der arabische Mensch ist noch nicht geboren, er existiert noch nicht. Die arabischen Länder sind bis heute reine Stammesgesellschaften. Wenn die Muslime von einer echten Revolution träumen, müssen sie zwei Dinge tun. Sie müssen Religion und Staat trennen. Und sie müssen die Frauen befreien. Solange sie das nicht fertigbringen, wird sich absolut nichts ändern. Dann gibt es ab und zu mal ein Regime, das sich ein bisschen mehr öffnet, Minister, die einem besser gefallen als andere, aber das ist alles ganz unbedeutend. Ohne die Emanzipation der arabischen Frau wird es in den arabischen Ländern niemals einen Fortschritt geben.
ZEIT: In Deutschland demonstrieren im Augenblick Tausende gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“. Muss man sich vor dem Islam fürchten, ist er an sich intolerant?
Adonis: Ja, aber das gilt für alle Monotheismen, den jüdischen eingeschlossen. Der Monotheismus überlässt seinem letzten Propheten jeweils die ultimative Wahrheit. Das heißt: Am Ende hat Gott nichts mehr zu sagen, es gilt nur noch das Wort des Propheten. Und jeder Monotheismus hält seinen Propheten für den einzig legitimen. Das religiöse Denken ist immer ein ausschließendes. Das Anderssein des anderen, die Grundfigur der arabisch-griechischen Philosophie, ist ihm fremd.
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Adonis: Als in den sechziger Jahren Journalisten und Bürgerrechtler in den kommunistischen Ländern unterdrückt wurden, haben wir Petitionen gegen die kommunistische Diktatur aufgesetzt. Heute schlachtet man im Namen des Islams täglich Tausende. Und es gibt keinerlei Aufschrei in der westlichen Öffentlichkeit.
ZEIT: An wen sollte man Petitionen adressieren?
Adonis: An die Menschheit, als Zeugnis.
ZEIT: Wann wird dieser Albtraum enden?
Adonis: Gar nicht. Es wird einen neuen hundertjährigen Krieg geben. Einen Krieg zwischen den Muslimen mit dem einzigen Ziel, die innere Kraft des Islams völlig zu zerstören. Der große Krieg des 21. Jahrhunderts wird ein innerarabischer Krieg sein, in dem sich die arabische Welt selbst zerfleischt und zugrunde geht.
ZEIT: Eine große, alte Hochkultur, die ins Mittelalter zurückkehrt.
Adonis: Im Mittelalter gab es immerhin den Willen der Philosophen und Gelehrten, das Mittelalter zu überwinden. Und man hat es überwunden. Jetzt unternimmt man im Gegenteil einige Anstrengungen, um ins Mittelalter zurückzukehren. Und diese Rückkehr ist gern gesehen, um nicht zu sagen befördert durch den Westen.
Es freut mich, dass Adonis die Generierung bequemer Klischees durch gewisse nahöstliche Experten für ebenso bequeme westliche Intellektuelle so gründlich ad absurdum führt. Über die Radikalität seiner Thesen mag man streiten, sie ändert aber nichts an der Tatsache, dass dies ein innerarabischer Krieg ist, in dem die nicht-arabische Islamische Republik Iran kräftig mitmischt. Früher war eben doch nicht alles besser…
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