21. Nach den Protesten

Seit den Gezi-Protesten in der Türkei ist mittlerweile ein Jahr vergangen. Die Literatur erlebte in der Folge einen Aufschwung: Junge Lyriker suchen nach Formen einer kritischen, ironischen Dichtung. Fünf Dichter, die bei den Protesten in Istanbul dabei waren, beschreiben die neue türkische Lyrikszene. (…)

Die größte gesellschaftliche Auswirkung der Proteste besteht für ihn [Mehmet Altun] aber darin, dass die Menschen Dichter und Schriftsteller wie Turgut Uyar oder Oğuz Atay wiederentdeckt haben. Aber auch Werke wie das Schahname, das persische Nationalepos des Dichters Firdausi. Das Verlangen nach Literatur, die den realen Umständen Rechnung trägt, wächst, sagt er. So werden Verszeilen als destillierter Ausdruck eines bestimmten Gefühls, das seine Entsprechung in der Realität hat, seit letztem Sommer über Twitter, aber auch als Graffiti verbreitet.

„Ich erinnere mich an ein Graffiti: Bei Gezi bin ich der Selbstmord des Jessenin. Würde man alle Graffiti zusammennehmen, hätte man eine lückenlose Anthologie. Hinter jedem Vers verbarg sich eine tiefe Bedeutung und gleichzeitig eine konkrete Praxis, die auch durch Kameraaufnahmen archiviert wurde.“

So hat die Literatur den Protesten ein Gesicht gegeben und gleichzeitig durch sie Aufwind bekommen.  Onur Behramoğlu ist Ende 30, Übersetzer und Autor. Er ist davon überzeugt, dass sich die Proteste auf die zeitgenössische Dichtung auswirken werden. Für ihn ist Dichtung Protest, und der Dichter kann nicht anders, als sich mit politischen Missständen auseinanderzusetzen.

Dass aus diesem Grund das Verlangen nach einer realitätsbezogeneren Dichtung steigt, denkt auch  Gökcenur Celebioglu. Der 43-jährige Mann mit freundlichem Gesicht ist Ingenieur und hat mehrere Gedichtbände herausgebracht. Die Unzufriedenheit vieler Menschen etwa über Veränderungen beim Alkohol- und Abtreibungsgesetz und die als bevormundend empfundene Art des Ministerpräsidenten Erdogan wird direkte Auswirkungen auf die neue Dichtung der Türkei haben, denkt er.

„Das türkische Gedicht nach Gezi wird sich die gesellschaftsbezogene Dichtung, die sie in den letzten Jahren islamistischen Dichtern überlassen hatte, wieder aneignen und politischer dichten.“

/ Ceyda Nurtsch, DLR

Hier ein Gespräch mit Selma Wels, einer Verlegerin türkischer Literatur in deutscher Übersetzung. In ihrem Berliner binooki Verlag erschien „Gezi – eine literarische Anthologie“. Wels spricht darüber, was von der gesellschaftlichen Utopie nach den Gezi-Protesten geblieben ist. Welche Wirkungen haben die Proteste des vergangenen Jahres erzielt?

SRF

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