8. Ohrenmensch

Michendorf – Manchmal ist man sich seiner Liebe nicht sicher. Dann hilft es, mit seiner Angebeteten so lange am Strand spazierenzugehen, bis sich das ändert. Nach hundert Metern die erste Frage: Liebst du mich schon? Nichts. Weiter geht es, bis man im Osten Kamtschatkas ankommt – liebst du mich jetzt? So weit muss man manchmal gehen.

Genauso originell und unverkrampft erzählt der Ausnahme-Lyriker Thomas Kunst von einer Ameise, die als Arbeiterin in einem Eisstadion zu malochen hat. Nach ihr hat der hochgelobte Poet Thomas Kunst, ein Stralsunder des Jahrgangs 1965, sein jüngstes Buch benannt: „Die Arbeiterin auf dem Eis“. Jüngst las er im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus daraus, seinem bisher 14. Buch seit 1991. Auch andere Titel machen sofort auf die ungewöhnliche Art des formstrengen Lyrikers neugierig, etwa „Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd“, „Strandkörbe ohne Venedig“ oder „Besorg noch für das Segel die Chaussee“, sein Erstling. (…)

Seine Lyrik jedenfalls ist oft grandios. Sie verknüpft die Form mit einer unbändigen Fantasie, bringt das Unmöglichste zusammen, das Geburtstagsgeschenk und den Grönländischen Eisberg, Zitronenfalter und weinende Jäger, Hemingways Enkelin Birthe und falsche Lyrikpreisträger. Logisch passt das alles gar nicht zusammen, sonst aber schon. Das ist die Kunst, die Regeln des Alltags zu überlisten und wieder denken und fühlen zu lernen. Das Leben anders zu sehen, sozusagen Venedig ohne Strandkörbe. Frei zu sein. Doch alles hat einen Preis. Mehrmals hörte man, wie er gegen die Bitterkeit in sich ankämpft, auch in Sachen Frauen. Sagt der Verlassen-Enttäuschte nicht in einer Verszeile „melde dich erst wieder, wenn du stirbst“?

Lyrik ist Ohrensache, das wusste Ernst Kleinpaul schon, in seiner „Poetik“ von 1868. Thomas Kunst als Poet ist Ohrenmensch, ein musikalischer dazu, er spielt Instrumente, er komponiert, also sind seine Texte voller Musik. / Gerold Paul, Potsdamer Neueste Nachrichten

5 Comments on “8. Ohrenmensch

  1. übrigens zu meiner zeit (vor der rechtschreib“reform“) war „der hochgelobte“ das gegenteil von „der (zu recht) hoch gelobte“. man unterscheidet das heute nicht mehr. paßt irgendwie. (einer der gründe weshalb ich an der alten rechtschreibung festhalte. soll sie mit mir aussterben – nicht so bald)

    Like

    • Wenn ich mich recht entsinne, war es so connotiert: „der – ZU UNRECHT – Gelobte
      (= Hochgelobte) vs. der – zu Recht – Gelobte.

      Bedeutungsverschiebung – wie heißt das noch gleich in der Sprachwissenschaft?

      Like

    • Ich bin sehr entzückt von dem hier:

      Manchmal ist man sich seiner Liebe nicht sicher. Dann hilft es, mit seiner Angebeteten so lange am Strand spazierenzugehen, bis sich das ändert. Nach hundert Metern die erste Frage: Liebst du mich schon? Nichts. Weiter geht es, bis man im Osten Kamtschatkas ankommt – liebst du mich jetzt? So weit muss man manchmal gehen.

      Hach! Das wird heute bestellt! 🙂

      Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..