99. Gedichte und Denkzettel

Viele Denkzettel haben allerdings – im Gegensatz zu den Gedichten – eine relativ kurze Halbwertszeit. Das mag vor allem an der unverblümten Freizügigkeit liegen, mit der Hensel immer wieder zum Kalauer greift. Eine Marotte, die so manchen Denkzettel zäh werden lässt: „Das Ur-Laub: von welchem Busch oder Bau mag es wohl stammen?“ Da hilft es auch kaum, wenn an anderer Stelle versucht wird, dieser unliebsamen Veranlagung ironisch zuvorzukommen: „Mein Zwang zum Kalauern ist umso schlimmer, je schlimmer es ist. Auf der Gefäßchirurgie des Klinikums Wilmersdorf sah ich drei fette Frauen um das Bett der sterbenden Mutter: drei Venen von Wilmersdorf.“

Glücklicherweise bleiben die Gedichte von derartigen Wortspielereien verschont. Jan Kuhlbrodt schreibt in seinem Nachwort, der Vers, das Künstlichste, das die Sprache kennt, sei Kerstin Hensel eingeboren. Eine natürliche Weise des Artikulierens. Dem bleibt nur hinzuzufügen, dass sich ihre Sprache deswegen noch nicht im Vers erschöpft. Sie versucht ihm vielmehr immer schon voraus zu sein. Schwarz und romantisch, um einen Atemzug.

Kurzer Besuch

Jetzt kommt noch
Herr Nachtmar und fährt mir
Mit seiner grauen Hand über den Kopf
Ich rüttle mich schüttle mich und ich
Empfehle mich.

/ Peter Neumann, Fixpoetry

Kerstin Hensel: Das gefallene Fest. Gedichte und Denkzettel. Herausgegeben von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt und Ralph Lindner. Gebundene Ausgabe. 96 Seiten. 16,80 Euro. ISBN: 978-3-940691-41-5. poetenladen, Leipzig 2013.

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