14. Frontbericht

Auch das Publikum – Leute um die 30, die stets an den richtigen Stellen kichern – ist eher nicht von hier, sondern extra angereist. Insofern hat die Lesung nichts mehr mit der Idee der Poet’s Corner zu tun, wie sich das die Literaturwerkstatt im Rahmen des Berliner Poesiefestivals überlegt hat: dass die Gedichte raussollen, in die Kieze, unter Leute, die sonst nichts mit Lyrik am Hut haben.

Macht aber nichts. Denn die Stimmung im Körnerpark ist gut: Das liegt am schönen Licht in der Orangerie, es liegt am Blick auf die erwähnten Kastanien und die Palmen in Kübeln, es liegt aber vor allem an der expressiven Lyrik der Lesenden – allen voran die Werke der Berliner Dichterin Jinn Pogy, Redakteurin und Mitherausgeberin der Berliner Zeitschrift für Lyrik und Prosa Lauter Niemand. Schöne Sätze wie der vom „Recht auf ein Versteck, das von Körperwärme beheizt wird“, sausen durch den Raum. Man müsste viel öfter Gedichte lesen, idealerweise eins am Tag, denkt man noch, aber da geht es schon weiter. …

Dann betritt ein großer, dürrer Mann Mitte 30 die Bühne. Er trägt himmelblaues Hemd, schwarzen Anzug und Krawatte, Kapitän-Ahab-Bart, einen Pferdeschwanz und wirkt überhaupt wie einer dieser exzentrischen Leichenbestatter aus der TV-Serie „Six Feet Under“.

Der Mann heißt Tom Bresemann und liest, als sei er Mitglied der weltbesten Lesebühne: Mit charmantem Berliner Akzent, sehr präsent und pointiert. Seine Gedichte, die er zuletzt unter dem Titel „Berliner Fenster“ im Berlin Verlag veröffentlicht hat, beinhalten witzige Wortspiele mit neudeutschen Unworten, zum Beispiel „Contents aller Länder, vereinigt euch“. Recht schnell muss er sich leider schon wieder um seinen Hund kümmern, der plötzlich anfängt zu jaulen, vor allem aber um sein Baby, das es nicht mehr aushält im Kinderwagen – all das macht ihn nicht weniger sympathisch.

Das scheint auch der grinsende Björn Kuhligk in seinem Lehnsessel am Rande so zu sehen, der nun Tom Bresemann das Baby in den Arm drückt und die Bühne betritt. Kuhligk ist einer der einflussreichsten jüngeren Lyriker Berlins. … Seine Gedichte sind kompliziert, wimmeln aber auch vor tollen Reimen, die hängen bleiben. Zum Beispiel: „Die Liebe ist ein Milchmädchen. Spricht sie, ich liebe dich, ist sie drei Liter tief.“ / Susanne Messmer, taz

6 Comments on “14. Frontbericht

  1. schnippender finger, nur kurz: was die im artikel ausgestellten stadtteile betrifft, so ist jede bezirksbeschau zunächst einmal schon arg von üblichkeiten, vorgefertigten bildern klistiert (und das zieht sich in toto durch den artikel): die „alternative“ wagenburg mit selbstspülverpflichtung, umlauf an kindern und modernisierten eltern, das vom zuzug schier ausgewechselte und nunmehr besuchsaffine neukölln und das plattenbauviertel, das der autorin einen chinavergleich abringt und in dem wild wucherndes den waschbeton in herrliche anführungsstriche setzt. soweit. und diese einfriedung findet sehr nah an einer schablone statt. in neukölln z.b. stammte das publikum sehr wohl zum größten teil aus dem kiez und auch wenn jemand extra angereist wäre: die lesungen fanden nahezu sämtlich zur selben zeit statt. wenn man sich per programmheft dann eine bezirkslesung ausguckte, die man gerne hören würde, sofern im eigenen stadtteil keine abgehalten wird oder man um jemanden weiß, an dessen texten einem sehr gelegen ist, so will das jedem zugestanden sein. zwar haben in diesem jahr auch einige lyriker nicht „ihren“ kiezen gelesen, aber das spricht dem vermeintlich immergrünen, immergleichen doch eher etwas ab, als dass es ihm beipflichtet. in charlottenburg war mir das publikum völlig neu.

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  2. Lieber Herr Gratz, im Grunde stimme ich Ihnen zu. An sich ist es erstmal sehr gut, dass die taz überhaupt drüber schreibt, weil dadurch wieder ein paar Menschen mehr mitkriegen, dass es sowas wie Lyrik überhaupt gibt. Aber darf man deswegen nicht ein de facto vorhandenes Problem thematisieren?

    Ich war nicht da, also weiß ich nicht, ob der erste Absatz des Artikels stimmt. Er spiegelt aber ein Bild, das ich immer wieder erlebe, darf also wenigstens als realistisch durchgehen.

    Die Frage ist doch: Warum veröffentlicht man? Manche tun es, weil sie gerne ihren Namen gedruckt sehen. Andere (eine Mehrheit, hoffe ich) tun es, weil sie wollen, dass ihre Arbeit gelesen wird. Ich kenne genug LyrikerInnen, die heftig dran knabbern, dass kaum einer ihre Arbeit wahrnimmt, und wenn es mal jemand tut, kommt er /sie idR selbst aus dem Lyrikumfeld.

    Natürlich ist die Diskussion ewig alt, aber soll man nur deswegen resignieren und sie untern Tisch fallen lassen? Auch ich bin immer wieder an Punkten, an denen ich Resignaion spüre & mich frage, warum ich da überhaupt noch so viel Zeit & Energie reinstecke – nur um dann wieder zu sehen (wie zuletzt vor einer Woche), dass es durchaus machbar ist, ein „lyrikfernes“ Publikum anzufixen.

    Wirklich Wirkung können solche Versuche aber nur haben, wenn viele Lyriker an einem Strang ziehen und gemeinsam (Marketing)Konzepte entwickeln, doch den Willen dazu sehe ich allenfalls vereinzelt. Ich habe schon einige Initiativen in dieser Richtung an den Eitelkeiten Einzelner scheitern sehen.

    Dies – und auch anderes, was Sie ansprechen – sind Themen, über die man sprechen muss, es sei denn, man ist mit dem status quo zufrieden. Soweit ich weiß sind viele sehr unzufrieden.

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  3. aber das problem ist so m.e. zu kurzschlüssig gefaßt. die jungen dichter, so schallt ein kleiner aber ziemlich lautstarker chor immer wieder (und gemeint sind damit in der regel die ebenso kurzschlüssig als „unverständlich“, „experimentell“ oder auch akademisch beschimpften unter den lebenden dichtern), seien schuld am wegbrechen des publikums. im april ergab sich das paradox, daß mit nora gomringer eine autorin für die klage herhalten sollte, die gar nicht für unverständlich und stilles kämmerlein stehen kann. man kann den eiertanz bei herrn anton g leitner nachlesen, hier https://lyrikzeitung.com/2012/04/20/71-attacke/.

    kurzsichtig ist die klage, weil es die debatte einfach immer wieder gibt. zb in deutschland vor 200 jahren:

    „Sie jammern immer, die Deutschen Autoren schrieben nur für einen so kleinen Kreis, ja oft nur für sich selbst untereinander. Das ist recht gut. Dadurch wird die Deutsche Litteratur immer mehr Geist und Charakter bekommen. Und unterdessen kann vielleicht ein Publikum entstehen.
    Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. Ersten Bandes Zweytes Stück, 1798, S. 75“

    daß schlegels utopie eines neuen publikums nicht aufgegangen ist, kann man am wenigsten den heutigen dichtern anlasten. brecht, der mehr leser hatte als konstantin ames und gerrit wustmann zusammen, um mal 2 namen zu nennen, sprach davon, man müsse aus dem kleinen kreis der kenner einen großen kreis machen. nur wie, nur wann, nur wo?

    gänzlich töricht und ungerecht finde ich es, ausgerechnet ein poesiefestival irgendwie in diese kulturkritische jammerlage reinzuziehen. immerhin gehen ne menge leute zu veranstaltungen, natürlich mal mehr mal weniger wie überall. ob dem tazartikel darin zu trauen ist, es seien nicht leute aus dem kiez, sondern nur die innere „szene“ solidarisch zu den lesungen gezogen, kann sehr bezweifelt werden. ich höre von anwesenden anderes. und fahrlässig nenne ich es, aus diesem nicht geradezu solide klingenden bericht irgendwelche schlußfolgerungen über die lyrikszene im land zu ziehen. ich wünschte mir, daß jeder an jedem ort seins treibt und die andern gelten läßt anstelle dieser ewigen dummen frontbildungen und anwürfe. selbst lyriker mit hoher auflage wie vielleicht enzensberger oder die seligen kahlau und strittmatter stehen am rand des literaturbetriebs, so wie die literatur insgesamt am rand der gesellschaft; und am rand ist platz für alle und vielerlei.

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  4. abenteuerlicher sprung von einem mittelmäßigen zeitungsartikel zum ewigen thema der umsichselbstkreisenden lyrik. macht aber nichts. es sei denn man will auf deibelkommraus rechtbehalten. „schad der lyrik garnichts, warum macht sies nicht wie ich“. oder so. da hat sogar der taz-artikel mehr gehalt: meine meinung. 😦

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  5. Da wird ein Kernproblem beschrieben und dann kommt ein lapidares „Macht aber nichts“ … unfassbar. Na klar macht das was. Sehr viel sogar. Es sei denn, hier ist eine Mehrheit damit zufrieden, immer wieder nur von derselben Handvoll Leute gelesen / gehört zu werden… Mit anderen Worten: Um sich selbst zu kreisen.

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