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Ein Hörbericht von Bertram Reinecke (Fortsetzung von #99)
Thomas Kunst
Einer gewissen Umstellung im Zuhören bedarf es heutzutage schon, wenn jemand Sonette liest. Die Reime und festgelegten Zäsuren dieser Textform wollen antizipiert werden, will man das Spiel mit deren Brüchen mitbekommen. Dieses Spiel weiß Thomas Kunst sehr nah an der klassischen Form zu inszenieren. Ohne aufdringlich technizistisch zu lesen, arbeitet der Autor in seinem Vortrag die metrisch rhythmischen Verhältnisse und die Versenden heraus und was bei unaufmerksamer stiller Lektüre wie kleine zufällige Konzessionen an den Inhalt erscheinen mag, erweist sich als äußerst kaltschnäuzig gesetzt.
Ebenso weiß er, dass ein Gegenstand, der von Inhalt und Größe gänzlich der Form angemessen wurde, ein Sonett vielleicht gravitätisch aber nicht zugleich interessant macht. Ein Gegenstand muss, anders als es die trockene Lehre sagen mag, wohl etwas kleiner, oder etwas größer sein, als es die Form eigentlich zulässt. Im ersten Falle wird Freiraum für unselbstverständliche, auf andere Wege führende Bilder geschaffen, im zweiten nimmt die Spannung zur Form zu oder man ist zu überraschenden Raffungen gezwungen. Ein weiterer Kunstscher Schachzug besteht darin, die Gedankenarbeit des Sonetts ins Balladeske aufzulösen.
Es scheint eine Sonetttisteneigenheit zu sein, sich öffentlich an ihrem Verleger zu reiben. Was von Andreas Reimann bekannt ist, tat Kunst ihm nach: Er las nur wenige Sonette und danach ostentativ aus seinem neuen Band, der sei „viel besser“. Diese Texte sind in der Tat ganz anders, aber ebenso hörenswert. Es handelte sich hauptsächlich um Rollengedichte, teils mutwillig wie Brautigan, teils von schräger Symbolik aufgeladen. Es zeigte sich, dass die Rollensituation dort ihre höchste Kraft erreicht, wo die Fiktion des Autorenichs (wohlgemerkt nicht er und nicht seine Biografie) in den Rollentext poetisch hineinregiert.
Gabriel Rosenstock.
Ähnliches intendierte wohl auch Gabriel Rosenstock mit seinen Gedichten, die Hans-Christian Oeser ins Deutsche übertrug. Ohne über die gälischen Originale etwas sagen zu können, fiel positiv auf, wie unaufdringlich es dem Übersetzer gelang, die lautlichen Gleichklänge des Originals ins Deutsche zu retten. Auch hier gab es balladeske Elemente, Überraschungen (z.B. einen Wecker, der im Kühlschrank das Gemüse aufschrecken lässt), alles schien mir aber einen Tick zu auserzählt und überdeutlich. Für einen Songtext, der auf Redundanzen angewiesen ist, weil man nicht jedes Wort versteht oder einzelne Teile musikalisch konterkarieren kann, mag das angemessen sein, auf einer Lesung möchte man doch mehr beschäftigt werden. Man kann zum Beispiel seine Freundin mitbringen: Sie hatte ihren Kopf auf seiner Schulter abgelegt und er streichelte sie und beide hatten bei gedämpftem Licht in wohnzimmergemütlicher Atmosphäre wohl einen romantischen Abend. (Man stelle sich das Gleiche auf einer Czerninlesung vor.) Nicht jeder lyrische Text dient allein dem literarischen Wohlgefallen.
Die deutschorthodoxen Mönche des Klosters Buchhagen
Die deutschorthodoxen Mönche des Klosters Buchhagen haben in, wie sie sagen, jahrelanger Praxis von Gebet und Meditation den Psalter neu ins Deutsche übertragen. Gemäß ihrer orthodoxen Tradition nicht wie Luther unter Zugrundelegung der Vulgata, sondern nach der Septuaginta. Weitere Maßgabe für die Übersetzungen, die sie in einem Konzert in der Leipziger Petruskirche mehr oder minder zufällig zur Buchmessenzeit in Rezitation und Gesang vortrugen, war die bessere Singbarkeit. Stärker noch als im Gesang war in den Rezitationen zu spüren, dass dazu vor allem die syntaktischen Einheiten von der Länge aufeinander abgestimmt wurden. Sehr kurze (zwei betonte Silben pro Einheit) mehr aber noch lange (mehr als vier betonte Silben pro Sinneinheit) wurden scheinbar möglichst gemieden. Die Mönche singen die Psalmtexte nach tradierten Neumenmelodien. Die Psalmen müssen damit ebenso der syllabischen wie der melismatischen Singart zugänglich sein. Vokabulatorisch blieben aber ältere Übersetzungen stilbestimmend. Nach Aussage der Mönche hatte diese das Ziel, die Texte in eine heilige und nicht in eine profane Sprache zu übertragen. Gerade diese Nähe zu älteren Vorlagen stellt also einen weiteren wesentlichen Unterschied zum poetologischen Programm eines Luther oder Zwingli dar.
Sandra Trojan
Die Texte von Sandra Trojan sind mir lange vertraut. Sie gehört also eigentlich nicht in den Kontext dieser Rezension. Dennoch möchte ich Ihnen diesen sperrigen Hörtext (ein Anagramm), der, sperrig vorgetragen, dennoch einen Sog entfaltet, dem zumindest ich mich nicht entziehen kann, nicht vorenthalten.
Schlafton
Tim Turnbull: „Es lebt!!“ Gedichte englisch und deutsch von Norbert Hummelt, Birgit Kempker, Norbert Lange, Ulf Stolterfoht, Hans Thill und Jan Wagner, Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein, broschiert ISBN 978-3-938767-58-0 17 x 12 cm, 182 Seiten Euro 12.-
Kunst, Thomas: „Estemaga“ Sonette 96 Seiten Edition Rugerup ISBN: 978-91-89034-25-9 14.90 €
Rosenstock, Gabriel: „Ein Archivar großer Taten“ Ausgewählte Gedichte 128 Seiten Edition Rugerup englische Broschur ISBN: 978-91-89034-17-4 17.90 €
„Die Psalmen deutsch aus der Septuaginta“ Format 12 / 18,5 cm, 288 Seiten zweifarbig feste Bindung Leder mit Blind- und Goldprägung. ISBN 978-3-926236-07-4 24,- Euro
Sandra Trojan: Um uns arm zu machen. Gedichte. . Leipzig: poetenladen 2009 ISBN 978-3-940691-10-1 80 Seiten, 13,80 Euro Gebundene Ausgabe
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