57. Nachschlag zu einem „fröhlichen“ Verriss

In einem leidlich amüsanten, wohl eher von Häme als von kritischem Interesse diktierten Aufruf (an wen eigentlich?) wird mein Herbstbuch „Leben & Werk“ zum Verriss freigegeben. Sei’s drum. Ich kann und will die Rezeption der von mir verantworteten Texte nicht beeinflussen, auch nicht kommentieren. Bücher haben bekanntlich ihr eigenes „Schicksal“, nehmen ihren eigenen Weg, treffen dort ein, wirken dort fort, wo sie gebraucht werden und wo man mit ihnen „etwas anfangen“ kann. Wo das nicht der Fall ist, kommt ohnehin jede Hilfe, jede Hoffnung zu spät. Insofern interessiert mich das Schicksal meiner Bücher nicht. Sobald sie veröffentlicht sind, fallen sie von mir ab, sie gehen fremd, kommen mir abhanden, gehören mir nicht mehr. Man kann sie schätzen, man kann sie schänden, man darf sie auch missverstehen; mich berührt das alles nicht.

Von daher kommt mir auch die eher dürftige Idee mit dem physischen Verriss eines Buchs – hier also von „Leben & Werk“ – gar nicht so abwegig vor. Denn tatsächlich lässt sich dieser mehrfach gemoppelte Text auch in Stücken, Fetzen,Versen, Einzelsätzen durchaus adäquat lesen – man liest drin, und man weiss, man ist vom linearen Durchlesen dispensiert. Steht ja auch im Vorwort des Autors. Dass das Verreissen auch ganz praktisch als Zerreissen getätigt werden kann, will ich durch die folgende Episode bezeugen.

Ich bin von Kijiw nach Lwiw im Zug unterwegs. Hocke zwischendurch im ungeheizten Klo, spüre von unten den eisigen Fahrtwind, am Boden liegt ein Bündel von Zeitungsausrissen, die offensichtlich das fehlende Klopapier ersetzen sollen. Auf einer der Zeitungsseiten steht ein Gedicht. Ich greife nach dem zur Hälfte zerrissenen Blatt, versuche den Text – ukrainisch – zu lesen, lese ihn mehrmals, und er kommt mir dabei immer bekannter vor. Der Name des Autors wie auch der Gedichtanfang fehlt, ist weggerissen. Unter dem Gedicht steht, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Deutschen handelt. Vom Namen des Übersetzers bleiben bloss ein paar Buchstaben: Wolod… ‒ Doch nun dämmert es mir: Das ist mein Gedicht. Das ist eins meiner Gedichte, zumindest ein Teil davon. Ich hab den Ausriss dann doch nicht als Klopapier verwendet. Hab ihn am Kleiderhaken an der Innenseite der klappernden Toilettentür aufgehängt. Für einen unbekannten Leser. Für eine andere Lesart. Vielleicht also doch ein „fröhlicher“ Verriss!

Felix Philipp Ingold

3 Comments on “57. Nachschlag zu einem „fröhlichen“ Verriss

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  2. Lieber Herr Ingold, wenn Sie diese sehr eingehende und anregende Würdigung wirklich für von Häme diktiert halten (ich habe den Text jetzt auf Ihren Hinweis gelesen), dann sind Sie so ungefähr die zarteste Mimose, die je auf Gottes schöner Erde spross.

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  3. Na ja, mit dem missverständlichen „Verriss” – aber nur, wenn man nicht genau liest, missverständlich! – meinte der fröhliche Polemiker Jackson doch wohl positiv (!) (so habe ich ihn verstanden), dass er sich eine lebendige Auseinandersetzung / Beschäftigung mit dem Buch wünscht, und zwar mit Blick auf die Gefahr, dass es als toter, sprich: ungelesener, Ziegel in die Bildungstapete versenkt wird und da vergammelt. Er weiß eben, wie schlampert der Bildungsbürger ist, und tritt ihm vorsorglich kräftig auf die schlafenden Zehen. Er will nicht, dass ihm etwas entgeht, das ihn interessieren sollte. Diese sauertöpfische Reaktion ist nun allerdings etwas ernüchternd, mon Dieu!

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