38. Zeitgenosse

WDR3: Passagen, 21.05.2013 Rezension: Walter Höllerer, Gedichte aus dem Nachlass, in: randnummer. Rezensent: Ulrich Rüdenauer

O-Ton Marcel Beyer

(…) es hat sehr viel damit zu tun gehabt, der Lyrik das sonntäglich Feierliche zu nehmen. Gedichte sind nicht das, was man zu hören bekommt, wenn Oma 80 wird. Sondern der Gedanke war, eigentlich greifen Gedichte in unser Leben ein, und sie begleiten unser Leben. Wie kann das funktionieren? Und so kam es zu dieser Debatte ums lange Gedicht. Und mit dem langen Gedicht war natürlich auch verbunden, dass das Gedicht in der Lage ist, ungeheuer viel Material in sich aufzunehmen, ohne dass es als Gedicht in seiner Form zerbrechen würde. Das ist ja etwas, worauf man gar nicht häufig genug hinweisen kann. Dies darf in ein Gedicht, nein diese gehört aber nicht in ein Gedicht… Nein, alles kann in ein Gedicht hineinkommen, das ist das Verrückte. Und das Nachdenken, das theoretische, aber auch das lesende Nachdenken über Literatur und über Gedichte hat sich bei Walter Höllerer immer in seinen eigenen Gedichten, in seinen eigenen Texten niedergeschlagen. Das heißt, das sind Gedichte, die nicht verleugnen, dass man auch nachdenken kann. Und das ist doch eigentlich was sehr Schönes.

Sprecher

In „Systeme“ heißt es: „laßt uns / unverbogene-Bilder benützen / nicht die qualvoll abgesperrten / Idyllen“. Im Umfeld dieses Bandes sind noch weitere Gedichte entstanden, die nicht in die Publikation aufgenommen worden sind. Tom Bresemann, selbst Lyriker und Literaturveranstalter, hat sie im Archiv entdeckt – 40 Jahre nach ihrer Entstehung sind sie faksimilierter Form in den Literaturzeitschriften „Sprache im technischen Zeitalter“ und „randnummer“ erschienen. Nun wird der Literaturimpressario endlich wieder als Dichter wahrgenommen, der Impulse bietet und neue Schreibwege eröffnet.

O-Ton Tom Bresemann

Und das ist was, was ich eben heute auch sehe, was ich auch bei vielen Vertretern eigentlich der, sagen wir mal, wie immer zu nennenden avantgardistischen Lyrik sehe: Norbert Lange, Konstantin Ames, auch viele der kookbooks-Leute. Es geht gar nicht darum, das gegeneinander auszuspielen, mir geht es nicht darum, dass Höllerer irgendwie besser ist oder andersrum, sondern es geht eben ganz direkt darum, dass ich Höllerer eigentlich als Zeitgenossen von uns sehe.

Walter Höllerer: Gedichte aus dem Nachlass, in: randnummer (Ausgabe 5), Berlin 2012, 8 Euro sowie in Sprache im technischen Zeitalter (Heft 203) Köln 2012, 14 Euro.

3 Comments on “38. Zeitgenosse

  1. während der fixe herr enzensberger 1962 die amerikanische beat generation für die speerspitze der avantgarde hält und jack kerouac für das (naive) „oberhaupt der beatnik-sekte“, in: die aporien der avantgarde. an den beiden kann man gut 2 haltungen beobachten: neugier, aufgeschlossenheit und wahrnehmungsfreude höllerers auf der einen und satte selbstzufriedenheit des urteils und wahrnehmungsunlust enzensbergers auf der andern

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  2. Zufällig gestern einen Hinweis auf Höllerer in einem Fotographie-Buch gefunden „Harold Chapman – Beats à Paris, Paris und die Dichter der Beatgeneration 1957 – 1963“. Dort erzählt der Mitherausgeber Michael Kellner, wie um 1958 herum in jenem Hotel (dem Hotel du Vieux Paris) „zwei deutsche Schriftsteller in schwarzen Lederjacken“ aufgetaucht seien, und sich über das Modernsein (und Marihuana) aufklären ließen: Walter Höllerer und Günter Grass.

    Der erstere war es, der als Akzente-Herausgeber ein rundum aufgeschlossenes Interesse für das Neuere bezeugte und in der Folge mittels Theorie und Veröffentlichungen prompt so einiges anschob, das dann – ab ’58 eben in den Akzenten, ab ’61 in der Anthologie „Junge amerikanische Lyrik“ – mit in Bewegung setzte, was dann unter „Neuer Subjektivität“ (oder eben junge deutsche Lyrik) etc. wirkmächtig wurde.

    Dass Höllerer derart früh … war wir neu. (Und die Fotos in dem Buch sind übrigens auch sehr lohnenswert.)

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