Nur Hirtenvölker bevorzugen die Poesie

Die beiden Star-Poeten gelten als schwierig. Sie geben nur ungern Interviews. Spontan schon gar nicht. Der 72-jährige, in Paris lebende Syrer Adonis, der mit seinen Gedichten ein Brückenbauer zwischen Tradition und westlicher Moderne ist, sieht mit der schwarzen Sonnenbrille und dem dicken, legeren Schal um den Hals wie eine stilvolle Wiederauferstehung des großen Baudelaire aus.

Sein palästinensischer Kollege Machmud Darwisch, der „ungekrönte König unter den königlich verehrten Dichtern“, der in seiner Heimat wie ein Mythos verehrt wird, schreitet langsam und bedächtig, lächelt höflich und zurückhaltend. Unterm Arm hält er den gerade im Ammann Verlag in deutscher Übersetzung erschienen Band „Wir haben ein Land aus Wörtern“.

Auf die Frage, ob Lyrik in der arabischen Welt das sogenannte Herz der Kulturen sei, antwortet Darwisch ein wenig schelmisch, dass der Roman an Dominanz gewinne und die Poesie zum Glück auf dem Rückzug sei: „Nur ein Hirtenvolk drückt sich poetisch aus. Wir sind Gesellschaften, die modern werden.“ / NORA SOBICH, Märkische Allgemeine 1.11.02

Lyrik in der Wirtschaftswoche

Hobbykünstler und Wochenenddichter wechseln sich am Mikrofon ab. Irgendwann betritt ein Mann in Nadelstreifen und roter Krawatte die Bühne: Eugene Schlanger, besser bekannt als „Poet der Wall Street“. Tagsüber arbeitet der stellvertretende Generalanwalt bei Nomura Holding America, der US-Tochter des japanischen Wertpapierhauses. Der 46-jährige ehemalige Staatsanwalt blickt ein wenig scheu ins Publikum. …
Für einen Gedichtzyklus über die Angriffe auf das World Trade Center sucht er momentan noch einen Verleger. „Seine Beobachtungen sind einzigartig“, urteilt Sandra Sanderson, Programmkoordinatorin im Newington Cropsey Cultural Studies Center. / Wirtschaftswoche 1.11.02

August Wolff

Die Parchimer Zeitung (1.11.02) meldet den Tod des 100jährigen Heimatdichters August Wolff aus Groß Godems, Meckl. – Freies Wort (1.11.02) berichtet über eine Ausstellung, die den unangepaßten Künstler und Autor Kurt W. Streubel würdigt (er schuf u.a. Bild-Texte).

Darwisch: Keine Erneuerung außer in der Poesie

Seit meiner Rückkehr nach Palästina habe ich auch einen Gedichtband über die Liebe und einen über den Tod herausgegeben. Der Zustand der Belagerung aber ist eine Realität, die ich tagtäglich erdulde und die ich in poetischen Tagebüchern festhalte. Dies ähnelt aber in keiner Weise früheren Arbeiten, da ich heute einen asketischen Stil bevorzuge. Ich arbeite mit komplexen Bildern, die eher Sequenzen aus einem Kinofilm gleichen. Diese Methode ist völlig neu für mich. In der modernen Dichtung wird übrigens niemals nur ein einziges Thema innerhalb eines Gedichtes behandelt. Sämtliche Themen sind miteinander verwandt und verflochten. Das moderne Gedicht ähnelt einem dichten Netz, gleich einer komplexen menschlichen Situation. …

Das in der Tat ist das eigentliche Dilemma der arabischen Dichtung. Wie soll ein Dichter modern sein in einer Gesellschaft ohne Moderne, in einer Gesellschaft, die quasi in einer Vormoderne verharrt? Es gibt in der arabischen Welt keine Erneuerung außer in der Poesie und in den Sicherheitsapparaten. Das führt dazu, dass sich die zeitgenössische arabische Dichtung wie auf einer umzingelten Insel bewegt. / Der palästinensische Dichter Machmud Darwisch im Zeit-Gespräch, Die Zeit 45/2002.

parasitenpresse

Hinweis auf eine kleine Lyrikreihe der parasitenpresse Köln:

NEU IM HERBST
012 René Hamann: katalan. Gedichte, 14 S.
011 Ron Winkler: vielleicht ins Denkmal gesetzt. Gedichte, 14 S.

WEITERE TITEL
010 Enno Stahl: (kan)arische enklavn. Gedichte, 14 S.
009 Stefan Heuer: das gute geschäft. Gedichte, 14 S. (die ersten 35 Bände sind mit einem Originaldruck des Autors versehen)
008 Tom Schulz: Trauer über Tunis. Gedichte, 14 S.
007 Agenten.Gedichte, hg. v. Wassiliki Knithaki und Adrian Kasnitz. Mit Texten von Achim Wagner, Ulrike Draesner, Adrian Kasnitz, Crauss., René Hamann, Tony Cremer, Harald Gröhler, Frank Milautzcki und Anne Tharau, 14 S.
006 Rainer Junghardt: Quiet music. Gedichte, 14 S.
005 Annette Brüggemann: Ungefrühstückt. Gedichte, 14 S.
004 Stan Lafleur: goldene momente. Gedichte, 14 S.
003 Björn Kuhligk: Am Ende kommen Touristen. Gedichte, 14 S.
002 Achim Wagner: niemandem dieser tag. Gedichte, 14 S.
001 Adrian Kasnitz: Lippenbekenntnisse. Gedichte, 14 S.

Die parasitenpresse hat ein besonderes Format gewählt, um Gedichte in einer kleinen Auswahl zu präsentieren. Die gehefteten Bücher aus wiederverwertetem Umschlags- oder Packpapier umfassen jeweils vierzehn Seiten. Das Papier fühlt sich weich und griffig an und verblüfft durch seine Unregelmäßigkeit, denn verknitterte oder zerfranste Stellen gehören ebenso zum Erscheinungsbild wie ungerade Schnittkanten. Jedes Buch ist darum auch ein besonderes haptisches Erlebnis. / 31.10.02

Hartung

Der Rezensent der Süddeutschen führt zum Lob des neuen Hartungbandes ein Sonett an:

Er wäre gerne böse gewesen

Ihr Vater (Konrad) war wie Adenauer
Molly die Mutter ja! wie Molly Bloom
Er (Charlie) träumte schon vom kleinen Ruhm
als er sie küßte auf der Gartenmauer
Sie trug ein Fähnchen aus Lavabel
Sie schaukelten im Stadtpark mit dem Kahn
und in dem Wäldchen an der Autobahn
erforschte er die Gegend um den Nabel
Sie fragte Gibt es einen Gott? Er lachte
Sie weinte und er sagte Ja Marie!
und fühlte sich wie Mackie Messer, wie
der lächelte und wie ers schließlich machte
Gisela W. aus Recklinghausen-Süd
seit wieviel Jahren bist du schon verblüht

/ SZ 30.10.02

Friedenauer Presse

Verena Auffermann preist die schönen Bände der Friedenauer Presse an wie warme Semmeln. Einzige Einschränkung:

Wer nicht so klug war oder zu jung ist, die bis 1995 im Bleisatzverfahren gesetzten Drucke zu abonnieren, muss leider wissen, dass die meisten Hefte, von Günter Bruno Fuchs, Ossip Mandelstam, Wolfgang Hilbig, Lewis Carroll, Puschkin, Turgenew, Enzensberger, Tschechow oder Celan vergriffen sind. Aber die Gründe des unvergleichlich inkorrekten Herrn Diderot, seinem alten Hausrock nachzutrauern, sind, wie siebenunddreißig weitere Drucke, lieferbar. [Und manches andre noch – so zuletzt von Daniil Charms. M-G-] /SZ 30.10.02

Schaarschmidt, Siegfried

„Bergkette in der Ferne“
Begegnungen mit japanischen Autoren und Texten

Edition Peperkorn, Thurnum 2002, ISBN 3929181460
Kartoniert, 208 Seiten, 14,00 EUR
FAZ 29.10.02 – – – NZZ 21.9.02

Lyrik-Ballast

Nichts unterscheidet sich von westlichen Lehrmitteln so stark wie ein russisches Lesebuch für die erste Klasse. Auf mehreren hundert Seiten, praktisch ohne Bilder, stehen hier Gedichte und literarische Texte, die zur Hälfte aus dem 19. Jahrhundert sowie vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammen: ein 200-zeiliges Versmärchen von Puschkin, ein Kinder-Poem von Majakowski, Gedichte von Jessenin und Blok, Erzählungen von Tolstoi und Turgenjew. Täglich lesen die Kinder zu Hause ihr Pensum davon; wöchentlich lernen sie ein neues Gedicht auswendig. Darauf wird in der Klasse diskutiert und analysiert, und zwar nicht nur, was die Inhalte betrifft, sondern – von Anfang an sehr ausführlich – auch die formale Ebene. / NZZ 28.10.02

Siegfried Unseld

Die FAZ gedenkt Siegfried Unselds unter anderem mit einem Celanbrief zum Tod Peter Suhrkamps, 28.10.02 (Gerade erschienen: Als offenbar letzter Band der „Tübinger Ausgabe“ mit Vorstufen und Genese: Von Schwelle zu Schwelle) – – – Volker Braun, Unseld gedenkend, SZ 29.10.02 („Es war ein offen herzliches und zeitbedingt konspiratives Verhältnis. Nach der Vereinigung beanspruchte er, und gab ich ihm, die originalen Rechte. So hatte nun er die Lizenz zur Zensur, und tatsächlich mussten sich mein Eigensinn und sein Interesse bewähren. „)

Literaturarbeiter – Büchnerpreis für Hilbig

Als Wolfgang Hilbig 1965 bei einem Zirkel schreibender Arbeiter mitmachte und bei Lyrikseminaren der DDR-Arbeiterfestspiele, war ziemlich klar, dass es bald zu Unstimmigkeiten kommen würde. „Einmal habe ich die DDR-Nationalhymne parodiert, das hieß dann bei mir: ,Auferstanden aus Urinen und dem Wohlstand zugewandt.‘ Da war ich dann von Verhaftung bedroht“, erzählt er heute lauthals lachend beim zweiten Glas Weißwein. / Susanne Messmer, taz 26.10.02

Es sei der Versuch gewesen, «den Ort der Poesie zu nennen». So hat Hilbig einmal in Anlehnung an Stéphane Mallarmé die «Abwesenheit» aus seinem ersten Gedichtband kommentiert. Er wollte die «Abwesenheit» weniger als Anspielung darauf verstanden wissen, dass seine Texte (damals noch) in der DDR nicht erscheinen konnten. Vielmehr sollte der Begriff die Selbstvergewisserung des Schriftstellers leisten; er sollte den Raum für die Kunst unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus im Sinne der Moderne neu definieren: Anders als aus der Position einer radikalen Abwesenheit heraus schien dies Hilbig weder denkbar noch möglich, nicht damals, doch auch heute nicht. / Roman Bucheli, NZZ 26.10.02

Wolfgang Hilbig hat den wohl exzentrischsten Dialekt, den je ein Büchner-Preisträger gehabt hat. Seine verrauchte, gutturale Stimme lässt er am Satzende nicht sinken, sondern steigen. Auf diese Weise entsteht eine Melodie, die aus fernen Regionen und archaischen Sphären aufzusteigen scheint; aus den vergifteten Halden der „Zone“, die sich im Handumdrehen in Traumlandschaften verwandeln. / Ina Hartwig, FR 28.10.02

Georg Klein hielt eine nur schwer bekömmliche, Ehrfurcht und Egozentrik manieriert verschmelzende Laudatio auf den Büchnerpreisträger; Hilbig seinerseits begann wunderbar, evozierte die Tage seines Lebens als Heizer und berichtete packend, wie er in der glücklichen Einsamkeit des Heizkesselraums der Gewissheit teilhaftig wurde, er wolle und müsse Schriftsteller werden, rutschte dann aber ab in eine flache Medienkritik, welche die magischen Momente seines Vortrags nachträglich ruinierte. / Joachim Güntner, NZZ 29.10.02

Mehr zur Preisverleihung:
FZA.Net spendiert ein kleines Dossier – ebenso der MDR. – Frankfurter Neue Presse 26.10. («Und ich bekomme immer einen Preis, wenn Volker Braun mir vorangegangen ist») – Frankenpost 27.10. – St. Galler Tagblatt 26.10. – Thüringer Allgemeine 26.10. (Gespräch) – Thüringische Landeszeitung 26.10. – Spiegel .de – Felicitas von Lowenberg berichtet in der FAZ vom 28.10. – SZ 28.10. – Die FAZ bringt am 29.10. Kleins und Hilbigs Reden. – Berliner Zeitung 29.10. –

Auswahlbibliographie

Der Geruch der Bücher (2002)
Anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises erschien die CD „Der Geruch der Bücher – Wolfgang Hilbig liest Prosa und Gedichte“
Der Audio Verlag, Berlin, 78 min, 14.95 Euro

Bilder vom Erzählen (2001/ 02)

25 neue Gedichte von Wolfgang Hilbig, illustriert mit Radierungen des Berliner Buchkünstlers Horst Hussel. Großformatige Ausgabe zum 60. Geburtstag des Autors am 31. August 2001 in limitierter Auflage.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
ISBN 3-10-033628-3
Preis: 24,90 EUR

Abriß der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen. (1995)

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
ISBN 3-596-22383-0
Preis: 8,00 EUR

Zwischen den Paradiesen. Gedichte und Prosa (1992)

Reclam, Leipzig
ISBN: 3379014192

Die Versprengung. Gedichte. (1986)

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.
ISBN 3-596-15407-3.
Preis: 7,90 EUR

Stimme Stimme. Gedichte und Prosa. (1983)

Reclam, Leipzig

Abwesenheit. Gedichte. (1979)

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
ISBN 3-596-22308-3
Preis: 5,01 EUR

poetry news

In der vierten Folge der SZ-Serie „Deutsche Landschaften“ präsentiert Thomas Kling den Niederrhein / SZ 26.10.02 – – – In der Stuttgarter Zeitung schreibt Nico Bleutge über José Olivers neuem Lyrikband „nachtrandspuren“ (26.10.). – – – Die Kieler Nachrichten schreiben über den 1930 in Hinterpommern geborenen, seit 1950 in der BRD lebenden Lyriker Hans-Jürgen Heise. – – – Über Hundelyrik des allseits beliebten Robert Gernhardt berichtet (nicht unkritisch) die FR (26.10.) – – – Und auch dies: Sanddornlyrik (Schweriner Volkszeitung 26.10.02)

Sylvia Plath

Am Sonntag wäre Sylvia Plath 70 Jahre alt geworden. Ihre komplizierte Ehe mit Ted Hughes war überschattet von ihren Depressionen – und einer Konkurrentin, der charismatischen Deutsch-Russin Assia Wevill / Eilat Negev und Yehuda Koren, Die Welt 26.10.02

Quadratisch, gut

Lokal aus München:

Quadratisch, gut


Neue Literaturzeitschrift „ Münchner Hefte“

Endlich eine gute Nachricht für Studenten. Außer Wohnungsknappheit und überfüllte Hörsäle hat ihnen der Semesterbeginn eine neue Literaturzeitschrift gebracht. Sie heißt „Münchner Hefte“ und liegt kostenlos vor allem in und um die Uni herum aus. Auf 50 sorgfältig gelayouteten Seiten im Quadratformat bieten die Hefte ein Forum für junge Helden der Lyrik, der Prosa und des Essays, die irgendwo zwischen Poetry Slam, ernsthaften literarischen Absichten und der schüchternen Schubladenproduktion entlang formulieren. Das Chef-Trio Dennis Ballwieser, Holger Zapf und Verena Richter – Studenten, um die 20 Jahre alt – finden ihre Autoren per Schneeballsystem und über E-Mail-Zuschriften ( http://www.muenchner-hefte.de ). jt / SZ 26.10.02

Vorspiel in deutschen Reimen

Selbst- und schreibvergnügt spasste der Autor der «Fröhlichen Wissenschaft» in seinem «Vorspiel in deutschen Reimen»:

«Die Feder kritzelt: Hölle das! Bin ich verdammt zum Kritzeln-Müssen? – So greif‘ ich kühn zum Tintenfass Und schreib‘ mit dicken Tintenflüssen. Wie läuft das hin, so voll, so breit! Wie glückt mir Alles, wie ich’s treibe! Zwar fehlt der Schrift die Deutlichkeit – Was thut’s? Wer liest denn, was ich schreibe?» / NZZ 26.10.02

Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abteilung IX. Der handschriftliche Nachlass ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription. Herausgegeben von Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach in Verbindung mit der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1-3 plus CD-ROM, bearbeitet von Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach, Johannes Neininger, Wolfert von Rahden, Thomas Riebe und René Stockmar, unter Mitarbeit von Dirk Setton. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2001. Insges. 640 S., Fr. 341.-