Ich dichte im Schlaf

Die Fatrasie des 13. Jahrhunderts (siehe hier), ein absurder karnevalistischer Scherz, „aggressive Anti-Lyrik“ (Jean-Pierre Bordier), passt perfekt in die Rauhnächte zwischen Weihnacht und Epiphanias,  in die Zwölf Nächte vom 24. Dezember bis zum Dreikönigsabend (6. Januar), in denen auch das mittelalterliche Eselsfest gefeiert wurde:

Eselsfest (Festum asinorum), religiöses Volksfest, im Mittelalter seit dem 9. Jahrh., bes. in Frankreich, Spanien u. Italien zu Ehren des Esels, auf welchem Christus in Jerusalem einzog, zu Weihnachten, u. zu Ehren dessen, auf welchem Maria mit Jesu nach Ägypten floh, im Juni gefeiert. Ein geputzter, mit dem Chorhemd bedeckter u. zum Knien abgerichteter Esel, auf welchem eine junge Dirne saß, wurde mit großen Ceremonien in die Kirche an den Altar geführt. Alle Gesänge bei der Messe wurden mit einem Hinham (ya) beendigt, u. statt des Segens yate der Priester dreimal, indem das versammelte Volk, statt des Amen, ebenfalls yate. In Frankreich schloß das Fest mit einem besonderen, halb lateinischem, halb französischem Lied. Unschicklichkeiten u. Ausschweifungen aller Art waren damit verbunden, u. ungeachtet der strengsten Mißbilligungen u. Verordnungen der Bischöfe, Concilien u. Päpste erhielt es sich hier u. da doch bis ins 15. Jahrh.

Pierer’s Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 891.
Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20009881611

Schon im 9. Jahrhundert findet man Spuren von dem Eselsfeste in Frankreich, welches viele Jahrhunderte dauerte, ohne dass es abgeschafft werden konnte. Man beging das zum Gedächtniss der Flucht der Jungfrau Maria nach Aegypten. Man suchte das schönste Mädchen in der Stadt aus, putzte es so prächtig als möglich und gab ihr ein ordentliches Knäblein in den Arm. Hierauf setzte man es auf einen kostbaren angeschirrten Esel und führte es in diesem Aufzuge unter Begleitung der Geistlichkeit und des Volkes in die [1239] Kirche oder Hauptkirche, wo der Esel neben den hohen Altar gestellt wurde. Mit grossem Pomp ward die Messe gelesen, doch jedes Stück derselben: das Kyrie, Gloria und Credo mit dem lächerlichen Refrain: Hinham, hinham geendigt. Schrie der Esel zufällig dazu, desto besser. Wenn die Ceremonie zu Ende war, sprach der Priester nicht den Segen oder die gewöhnlichen Worte, mit denen er das Volk sonst auseinander gehen liess, sondern er iate dreimal wie ein Esel und das Volk, anstatt sein ordentliches Amen zu singen, iate ihm dreimal wieder entgegen. (Vgl. Flögel, Geschichte des Groteskkomischen von F.W. Ebeling; Europa von Fr. Steger, Leipzig 1871, Nr. 15.)

Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 1. Leipzig 1867.
Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20011574550

Ralph Dutli, der Übersetzer der Fatrasien, fasst Rauhnächte und Eselsfest zusammen:

Das Eselsfest fand zwischen dem Weihnachtstag und der Epiphanie (6. Januar) statt, in den Rauhnächten, wenn die festgefügte Ordnung von allerlei schrillen Dämonen außer Kraft gesetzt werden konnte. Vielleicht spielt die Fatrasie Nr. 37 auf dieses Fest an: »Mit einem vollen Topf Honigwein / machten sie den Esel fliegen«.

Dutli, Fatrasien, Göttingen 2010, S. 123

Lyrikzeitung feiert in diesem Jahr mit, ein kleines Fest des Unsinns und der poetischen Freiheit. Heute noch eine der anonymen Fatrasien aus Arras.

Ein gefiederter Bär 
ließ Korn säen
von Dover bis Wissant.
Eine geschälte Zwiebel
erklärte sich bereit,
singend voranzugehen,
als auf einem roten Elefanten
ein bewaffneter Schneckerich
entgegenkam und ihnen zubrüllte:
»Hurensöhne, kommt schon her!«
Ich dichte im Schlaf.

(Anm.: Dover liegt in England und Wissant auf der anderen Kanalseite, in Frankreich. Das Dichten im Schlaf kann uns bekannt vorkommen, von den Surrealisten oder vom ersten Trobador Wilhelm von Aquitanien, dessen „Lied aus reinem Nichts“ ebenfalls im Schlaf gedichtet wurde.)

Uns ours emplumés 
Fist semer uns bles
De Douvre a Wissent.
Uns oingnons pelez
Estoit aprestés
De chanter devant,
Qant sor un rouge olifant
Vint uns limeçons armés
Qui lor aloit escriant:
«Fil a putain, sa venez!»
Je versefie en dormant.

Aus: Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Göttingen: Wallstein, 2010, S. 60

2 Comments on “Ich dichte im Schlaf

  1. Ein gefiederter Bär,
    Korn säte er,
    von Dover bis nach Wissànt.
    Eine Zwiebel geschält
    tat sich erklärn
    zu singen voran,
    auf einem roten Elefant
    ein Schneckerich
    zu schreien begehrt,
    bewaffnet wohlan:
    »Hurensöhne, kommt her!«
    Ich dichte im Schlaf.

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