Was fürs Gefühl

Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht ein Gedicht des jungen Dichters zusammen mit einer vom Dichter verfassten Gebrauchsanleitung.

Das Buch heißt Hauspostille. Es besteht aus fünf Lektionen und einem Schluss. Die erste Lektion trägt den Titel Bittgänge, sie besteht aus 9 Kapiteln (9 Gedichten). Hier Brechts Gebrauchsanleitung für diese Lektion.

Diese Hauspostille ist für den Gebrauch der Leser bestimmt. Sie soll nicht sinnlos hineingefressen werden.

Die erste Lektion (Bıttgänge) wendet sich direkt an das Gefühl des Lesers. Es empfiehlt sich, nicht zuviel davon auf einmal zu lesen. Auch sollten nur ganz gesunde Leute von dieser für die Gefühle bestimmten Lektion Gebrauch machen. Der in Kapitel 2 erwähnte Apfelböck, geboren zu München 1906, wurde 1919 durch einen von ihm an seinen Eltern begangenen Mord bekannt. Die in Kapitel 3 gezeichnete Marie Farrar, ein Jahr vorher wie der in Kapitel 2 erwähnte Apfelböck zu Augsburg am Lech geboren, kam vor Gericht wegen Kindesmordes in dem zarten Alter von 16 Jahren. Diese Farrar erregte das Gemüt des Gerichtshofes durch ihre Unschuld und menschliche Unempfindlichkeit. Der in Kapitel 9 erwähnte François Villon machte sich einen Namen durch einen Raubmordversuch und einige (wahrscheinlich obszöne) Gedichte.

Hier das 9. Kapitel.

Vom François Villon

1
François Villon war armer Leute Kind
Ihm schaukelte die Wiege kühler Föhn
Von seiner Jugend unter Schnee und Wind
War nur der freie Himmel drüber schön.
François Villon, den nie ein Bett bedeckte
Fand früh und leicht, daß kühler Wind ihm schmeckte.

2
Der Füße Bluten und des Steißes Beißen
Lehrt ihn, daß Steine spitzer sind als Felsen.
Er lernte früh den Stein auf andre schmeißen
Und sich auf andrer Leute Häuten wälzen.
Und wenn er sich nach seiner Decke streckte:
So fand er früh und leicht, daß ihm das Strecken schmeckte.

3
Er konnte nicht an Gottes Tischen zechen
Und aus dem Himmel floß ihm niemals Segen.
Er mußte Menschen mit dem Messer stechen
Und seinen Hals so in die Schlinge legen.
Drum lud er ein, daß man am Arsch ihn leckte
Wenn er beim Fressen war und es ihm schmeckte.

4
Ihm winkte nicht des Himmels süßer Lohn
Die Polizei brach früh der Seele Stolz
Und doch war dieser auch ein Gottessohn. –
Ist er durch Wind und Regen lang geflohn
Winkt ganz am End zum Lohn ein Marterholz.

5
François Villon starb auf der Flucht vorm Loch
Vor sie ihn fingen, schnell, im Strauch, aus List –
Doch seine freche Seele lebt wohl noch
Lang wie dies Liedlein, das unsterblich ist.
Als er die Viere streckte und verreckte
Da fand er spät und schwer, daß ihm dies Strecken schmeckte.

Aus: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 11: Gedichte I. Sammlungen 1918-1938. Bearbeitet von Jan Knopf und Gabriele Knopf. Frankfurt am Main: Suhrkamp und Berlin:Aufbau, 1988, S. 55f.

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