105. Ein europäisches Karussell

Rudolf Jurolek

Wer ist dieser melancholische slowakische Laotse? – fragt man sich auf der Suche nach dem poetischen Ich. Eine direkte Enträtselung wäre profan. Erfährt man jedoch, dass Jurolek in dem nordslowakischen Dorf Breza lebt, so ergibt sich aus dieser Tatsache ein denkwürdiger Kontext. Der „weiße Berg vor blauem Himmel“ gehört zur Tatra.

Breza selbst liegt in der Region Orava, die gewissermaßen die Wiege der slowakischen Dichtung war. Dreißig Kilometer vor Breza befindet sich das Städtchen Dolny Kubin, in dem zwei Nationaldichter der Slowakei gelebt haben: Janko Matúska (1821-1877) und Pavol Országh Hviezdoslav (1849- 1921). Matúska war ein romantischer slowakischer Patriot, Autor der Nationalhymne Es blitzt über der Tatra, welche 1920 in die tschechoslowakische Staatshymne integriert wurde. Hviezdoslav war ein Literat in mehreren Kunstgattungen, übersetzte Goethe, Puschkin und ungarische Lyrik in seine Muttersprache und gilt bis heute als Idol der slowakischen Kultur.

Adisa Basic

Die Bosnierin Adisa Basic ist ähnlich wie ihr slowakischer Kollege Meisterin der Kurzform. Den historischen Hintergrund ihrer Lyrik bilden die apokalyptischen Neunzigerjahre mit dem Bosnienkrieg, der an die hunderttausend Opfer forderte. Basic richtet aber unser Augenmerk nicht auf die Massenkatastrophe, sondern auf das Ausgeliefertsein der Einzelnen. So das Fazit eines Familienvaters im Gedicht „Rache“: „Ich weiß, wer/ meine Frau/ und meinen Sohn/ und meine Tochter ermordet hat./ Ich weiß, einer von ihnen ist zurückgekehrt./ Er hat eine Bäckerei./ Aber ich sehe zu, dass ich/ bei ihm niemals etwas kaufe.“

Ákos Fodor

Wie Jurolek neigt auch der Ungar Ákos Fodor zur Selbstreflexion in seiner äußerst sparsamen Haikuform: „Meine Gedichte?/ ach was. – Gedichte die ich/ bloß schreiben durfte.“

In der Gestik der Rücknahme des eigenen Ichs äußert sich zweifelsohne eine reduzierte Sichtweise, in der der lyrische Text wie ein Konzentrat des Durchlebten, Durchfühlten und Durchdachten entsteht.

Außerdem enthält fast jedes Gedicht etwas Unausgesprochenes, wobei der Leser – dem Zuhörer von Witzen nicht unähnlich – die Pointe selber auflösen muss. So im „Brecht-Echo“: „Was überhaupt ist/ ein Menschenmord im Vergleich/ zu einer Zeugung?!“

György DalosDer Standard

Ein europäisches Karussell

Zwischen 2006 und 2012 nominierten lokale Jurys aus 16 Ländern (Bosnien, Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Türkei, Ukraine und Ungarn) Autorinnen und Autoren, aus denen eine internationale Jury, zuerst unter dem tschechischen Schriftsteller Jiří Gruša (1938–2011), dann unter seinem ungarischen Kollegen György Dalos Preisträger aussuchte, die mit dem Bank-
Aus tria-Literaris-Preis für Prosa, einer Auszeichnung für den besten Lyrikband sowie sieben „Writer in Residence“-Stipendien von KulturKontakt Austria gewürdigt wurden. Die Aktion „Ein europäisches Karussell“, im Rahmen deren der Standard zehn Texte osteuropäischer Autoren publiziert, will einen Beitrag zur verstärkten Rezeption osteuropäischer Literatur leisten. Es werden Autoren besucht und mit ihrer Literatur in der Landschaft präsentiert: vom Roadmovie zum Road-Feuilleton.

Zum „Europäischen Karussell“ erscheint ein Kartonschuber mit neun Bänden 2222 S., € 75 plus zehn Euro Versandkosten

Die Aktion wird unterstützt von: DER STANDARD, Bank Austria Literaris, Ö1 und dem Wieser-Verlag.

Zu beziehen über Ihre Buchhandlung oder über: office@wieser-verlag.com, Fax: 0463/370 36, per Post: Wieser-Verlag, 8.-Mai-Straße 12, 9020 Klagenfurt/Celovec. Ö1 spielt vom 4. Mai an „Karussell“-Texte in „Ex Libris“ (jeweils Sonntag 16 Uhr).

www.wieser-verlag.com

1 Comments on “105. Ein europäisches Karussell

  1. Der Postbote hat mit der Lieferung aus Celevoc „Ein Europäisches Karussell“ vom Wieser Verlag den Lesesommer eingeläutet. Eine Sommerwiese und neun Bücher – ein Fest.

    Ich werde die Reise mit Martin Ryvšavý „Dimitrij der Heiler“, aus dem Tschechischen übersetzt von Kristina Kallert, beginnen. Danach lesend der Spur von Anna Zonová, aus dem Tschechischen übersetzt von Christa Rothmeier, „Zur Strafe und als Belohnung“ (Roman) folgen.
    Fortsetzen werden ich meine lieterarische Reise mit Agda Bavi Pain – sein „Am Ende der Welt“ wurde von Mirko Kraetsch aus dem Slowakischen übersetzt.
    Renata Šerelyté wird mit ihrem Roman „Blaubarts Kinder“, aus dem Litauischen übersetzt von Cornelius Hell, meinen Blick auf Russland neu fokusieren.
    Boris Chersonskij, ein russischer Lyriker aus Odessa, erzählt mit seinem Roman in Versen „Familienarchiv“ übersetzt von Erich Klein und Susanne Macht vom jüdischen Leben in der südlichen Ukraine.
    Die lyrische Wanderung wird mit „Das Leben ist möglich“ (Poesie) fortgesetzt. Die Autoren: Rudolf Juroek aus dem Slowakischen übersetzt von Christa Rothmeier, Ákos Fodor aus dem Ungarischen übersetzt von Vera Ahamer sowie Adisa Bašíć aus dem Bosnischen übersetzt von Cornelia Marks,
    Weiter geht es mit dem Roman „Die Mütter“, von Theodora Dimova, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann, übersetzt.
    „Unser Sonderberichterstatter“ sammelt Erzählungen von Florin Lazarescu, aus dem Rumänischen übersetzt von Aranca Munteanu.
    „Die Mütter“ von Theodora Dimova und „Ein bißchen Glück für später „von Palmi Ranchev – beide Bücher aus dem Bulgarischen übersetzt von Alexander Sitzmann werden meine literarische Juni Reise beenden.

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