28. Dichten als Nebentätigkeit

Von Dieter Lamping

Hier ist ein Mensch, höchst mangelhaft:
Voll großer und kleiner Leidenschaft,
Ehrgeizig, eitel, liebegierig,
Verletzlich, eifersüchtig, schwierig,
Unzufrieden, maßlos, ohne Halt,
Bald überstolz und elend bald,
Naiv und fünfmal durchgesiebt,
Weltflüchtig und doch weltverliebt,
Sehnsüchtig, schwach, ein Rohr im Wind,
Halb seherisch, halb blöd und blind,
Ein Kind, ein Narr, ein Dichter schier,
Schmerzlich verstrickt in Will’ und Wahn,
Doch mit dem Vorzug, daß er Dir
Von ganzem Herzen zugethan.

Diese beredten, aber etwas ungelenken Verse, „ganz in Wilhelm-Busch-Manier“, wie der Biograf vermerkt, sandte 1903 ein junger Schriftsteller an einen jungen Maler, in den er verliebt war. In die große Ausgabe seiner „Gesammelten Werke“, die 15 Jahre nach seinem Tod erschien, sind sie nicht aufgenommen worden. Die kleine Abteilung „Gedichte“ im neunten Band umfasst ohnehin lediglich sieben Texte. Keinen von ihnen würde man unverzichtbar nennen. Sie sind nicht einmal vergessen – sie sind nie durchgedrungen. Es ist nicht schwer zu begreifen, warum.

Thomas Mann war nicht mehr als ein Lyriker zur linken Hand. Er dichtete nur nebenbei, meist zu bestimmten Anlässen wie etwa Weihnachten oder um jemanden für sich einzunehmen. Das Versemachen war für ihn eine kleine Nebentätigkeit, wenn nicht bloß eine Freizeitbeschäftigung. / literaturkritik.de

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