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Jedoch geht es hier nicht allein um gemeinsames Dichten – es geht um einen Umsturz, eine Revolution, die Erneuerung der deutsche Lyrik. Überkommene Formen, Reim, überhöhte Dichtersprache, all das wollen die Lyriker um Arno Holz zum Verschwinden bringen und durch eine neue Art zu dichten ersetzen, in freien Versen, schlichter Sprache, in Gedichten, deren Zeilen nicht mehr linksbündig sondern (jede Zeile ihre eigene Überschrift) zentriert gedruckt werden sollen. Und dieser Putsch wird als konzertierte Aktion durchgeführt: Mit gleich sieben Heften, die alle im Verlag Johann Sassenbach erscheinen, treten 1898/1899 Arno Holz (mit zwei Heften seines „Phantasus“) und vier seiner ›Schüler‹ an die Öffentlichkeit: Georg Stolzenberg mit „Neues Leben 1“ und „Neues Leben 2“, Rolf Wolfgang Martens mit „Befreite Flügel“, Ludwig Reinhard (d.i. Reinhard Piper) mit „Meine Jugend 1“ und Robert Reß mit „Farben“.
Diese fünf Sammlungen, erweitert durch Stolzenbergs „Neues Leben 3“ (ursprünglich 1903 erschienen) und einige verstreut publizierte Gedichte Paul Victors – er war zwar Mitglied des Kreises um Arno Holz, jedoch kein Teilnehmer an der konzertierten Aktion – legt nun Robert Wohlleben in einer sorgfältig und diplomatisch edierten Ausgabe im Verlag Reinecke und Voß vor, der sich dadurch einmal mehr als Fachverlag für Horizonterweiterungen erweist. Denn der Putschversuch war nicht erfolgreich. Von den Zeitgenossen mit hämischer Kritik überzogen, von der Nachwelt kaum beachtet verstummten diese fünf Dichter und verschwanden aus der öffentlichen Wahrnehmung ebenso wie weitgehend auch aus den Literaturgeschichten, in denen sie meist gerade mal noch eine Fußnote zu den Einträgen zu Arno Holz hergeben. Ihre Gedichte verschwanden ebenfalls und ließen sich bislang nur mit Mühe in Bibliotheken und Antiquariaten auffinden.
Doch jetzt verdanken wir Wohlleben, der uns die Texte noch durch einen knappen Kommentar und ein kenntnisreiches und erhellendes Nachwort erschließt, die Gelegenheit, uns selbst ein Bild davon zu machen, welche Rolle diese Dichter in der Entwicklung der Lyrik spielen, ob sie wirklich nur dilettantische und banale Epigonen sind, die man nach dem ›kennste einen kennste alle‹-Prinzip getrost ignorieren kann, oder ob es sich nicht doch lohnt, sie als Individuen wahrzunehmen.
Natürlich lohnt es sich. Auch wenn die Dichter unleugbar den Eindruck erwecken, zusammengehörig und Holz zugehörig zu sein. Auch wenn dem heutigen Leser vielleicht manches wirklich nach Oberstufenschülerlyrik klingt (um niemanden zu beleidigen: ich meine meine eigene Oberstufenschülerlyrik):
Wer mein Freund ist?
Ein Baum
auf der weiten Haide
einsam
krank.
So etwa beginnt Stolzenbergs Gedicht auf S. 45 des ersten Heftes „Neues Leben“. Es finden sich aber auch ganz andere Töne:
Metallisch glänzt der Abendhimmel.
Unter dunklem Geäst
bläst ein Hirt.
Noch springen munter die Zicklein.
Mücken tanzen.
Ein Schaf schaut in die untergehende Sonne.
Bäh!
(Robert Reß, Farben, S. 9)
Vieles vereint die Dichter. Sie alle notieren Impressionen, geben dem Alltag und seiner Sprache viel Raum (da bähen nicht nur die Schafe, es waten auch Jören ins Wasser, man trinkt ’nen Cognac, ein Botaniker putzt seine Brille u.s.w.) und halten sich natürlich alle an die Holzschen formalen Vorgaben. Und doch hat jeder der fünf seinen eigenen Ton und es wäre schlicht falsch, ihre Gedichte nur als Holz-Nachahmungen zu etikettieren. Etwa wenn es um die Schilderung proletarischen Alltag geht:
Kopf an Kopf füllt der Plebs die Arena.
Seine Edelsten starten.
Wie sie sich abrackern! Wie sie sich schinden!
Das Ziel! das Ziel! Um jeden Preis!
Wenn sie ihr Rückgrat beschwert, reißen sie sichs aus – weg!
Hindert sie ihr Herz – weg!
Wen sein Hirn geniert – weg!
Da:
schon sind sie an den byzantinischen Säulen!
Die Hetzjagd!
[…]
[…] Und wieder ganz anders klingt Georg Stolzenberg:
Jeden Abend,
wenn im Biergarten die Militärkapelle spielt,
lehnen rings das Gitter entlang
Arbeiter in blauen Blusen,
das Kinn in die Hand gestützt.
Elektrisches Licht beleuchtet die ernsten Gesichter.
In die rußigen Seelen
duften
Blumen einer fremden Welt.
(Neues Leben 2, 45)
Die Lektüre dieser Gedichte macht misstrauisch sowohl gegenüber der hämischen zeitgenössischen Kritik als auch gegen die vorschnell klassifizierende (Holznachahmung, Naturalismus) Literaturgeschichtsschreibung. Und dabei lassen sich auch noch herrliche Entdeckungen machen, der stille, bisweilen Robert-Walser-artig bescheidene Ludwig Reinhard etwa, oder der lakonische und großartig unpathetische Robert Reß.
Sicher: manche der hier abgedruckten Texte werden wir Heutigen mit derselben befremdeten Rührung betrachten, mit der Arno Holz des ersten Dichters gedachte, der Herz und Schmerz zum Reimen brachte; aber daneben wird jeder der vielen Leser, die ich dem Buch wünsche, eine große Zahl von Gedichten finden, die die Lektüre lohnen, einfach weil es gute Gedichte sind.
/ Dirk Uwe Hansen, Poetenladen
Robert Wohlleben (Hrg.)
Antreten zum Dichten!
Lyriker um Arno Holz
Reinecke und Voß, Leipzig 2013
lieber dirk, ich hab lust zu 2 anmerkungen, zu denen mich deine schöne rezension einlädt.
1. Reinecke & Voß als „Fachverlag für Horizonterweiterungen“, sehr einverstanden. aber da liegt ein problem. ich bin überzeugt, daß die lust auf horizonterweiterungen unter uns pastorentöchtern auch nicht verbreiteter ist als unter etwa lyrikmuffeln. wer hat schon lust auf häufige horizontsprengung? kurz hingucken und sein auf wenig texterforschung ruhendes vorurteil bestätigt zu sehn ist leichter und weit beliebter.
2. in einem möchte ich widersprechen. „befremdete rührung“ ist es nicht, was der erste herz-schmerz-reim auslöst. weder für arno holz – er nennt ihn ja ein genie – noch für uns. rührung ja, aber befremden? dieser otfrid war ein fachmann für horizonterweiterung! hier kannst du es überprüfen http://lyrik.no-ip.org/mediawiki/index.php/Erste_Herz-Schmerz-Reim,_Der
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1. hm. du meinst, die formulierung könnte weniger werbewirksam sein als gedacht? das täte mir natörlich leid… trotzderdem glaube ich hartnäckig an die lust an der horizontsprengung.
2. auch hm. vielleicht ist „befremdet“ unglücklich gewählt. mir gings um das gefühl des fremd geworden seins gegenüber etwas großartigem, das aber nicht wiederholbar ist, nicht um so etwas wie distanzierung. danke für den link.
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natürlich werbewirksam! werden auch die finden die es nicht kaufen. manchmal hat man ja den eindruck daß die zahl derjenigen die ein buch loben drei- bis viermal höher ist als die es kaufen (und von kaufen bis horizonterweitern ists auch noch ein stück) kennen wir alle beispiele. siehe auch lessing über wer wird nicht einen klopstock loben, ein altes problem
(aber natürlich: die formel für die werbung verwenden! und hoffen!)
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