177. „Unangetastet von Verstehen“?

Sehr merkwürdig: Alle Leser, Dichterkollegen und Literaturkritiker, die sich über die Gedichte Friederike Mayröckers geäußert haben, sind begeistert und hingerissen, aber sie sind zugleich zutiefst irritiert. Sie bewundern und lieben ihre Gedichte und bekennen doch zugleich, dass sie sie überhaupt nicht oder allenfalls nur ansatzweise verstehen. Die äußerste Faszination und die äußerste Befremdung gehören offenbar zusammen, wenn man Mayröckers Gedichte liest. …

Für den wohlgesinnten Lyrikleser allerdings ergibt sich aus den Verständnisschwierigkeiten im Umgang mit Mayröckers Gedichten notwendigerweise die Forderung: „Du musst dein Lesen ändern!“ Soll er sie nach Günter Eichs Formulierung „unangetastet von Verstehen“ lassen? Mit bloßen philologischen Zitatnachweisen jedenfalls ist da ebenso wenig auszurichten wie mit der beliebten Einfühlung; und freiwildernde Assoziationen des Lesers im Anschluss an einzelne Verse mögen zwar für ihn beglückend und tiefgreifende Meditationen besinnlichkeitsfördernd sein – der Eigenart und dem Verständnis der Mayröckerschen Poesie kommt man damit kaum näher. Gewiss: Kein Umgang mit ihr ist ausgeschlossen, und der Leser darf sich zu Recht von den Versen in vollkommene Freiheit versetzt fühlen, aber diese Verse selbst, ihre Wort- und Metaphernfügungen, ihre Kombinationen aus Alltagsformulierungen und emotionalen Äußerungen, aus kühnen Bildern und schlichten Worten geraten bei solchen „Anwendungen“ aus dem Blick. …

Dass man bei der Lektüre der Gedichte Mayröckers ausgerechnet an Hölderlin denken muss, ist kein Zufall. Friederike Mayröckers jüngster Gedichtband enthält mehr als vierzig Gedichte, in denen Hölderlin ihr begegnet. Sie sind unter dem Titel „Scardanelli“ bereits separat erschienen (Rezension: Friederike Mayröckers neue Gedichte). Bei Hölderlin wie bei Mayröcker verrät das „nämlich“ ein Hintergrundwissen und zugleich die Bereitschaft, dieses Wissen dem Leser mitzuteilen. Es ist autoritär und kommunikativ zugleich. Autoritär, weil es an eine Aussage, Behauptung oder Erfindung, oft an eine rätselhafte Metapher anschließt, die offensichtlich einer Erläuterung bedarf; und kommunikativ, weil es dem Leser die Auflösung des Rätsels verspricht. Das Versprechen aber wird bei Mayröcker nicht eingelöst. Das „nämlich“ eröffnet keine Aufklärung, sondern führt nur in eine neue Rätselhaftigkeit hinein. Des Rätsels Lösung ist wiederum ein Rätsel. Das „nämlich“ hat Verweischarakter; aber es verweist auf nicht anderes als auf das, was es hervorgebracht hat: auf seine eigene Rätselhaftigkeit. Es besitzt eine tautologische Struktur. …

Auch Jubel, Freude, Übermut, Erkenntnis- und übersprudelnde Kombinationslust, Witz, Humor und Scherze vertragen sich als sprachliche Verlautbarungen mit diesen Tränen und erweisen sich als ebenso poetisch wie Trauer und Kümmernis. Wer’s nicht glaubt oder sogar immer noch zu bezweifeln wagt, dass diese Gedichte Gedichte sind, dem wird die folgende rigorose Antwort der Friederike Mayröcker zuteil: „indem ich sage das ist / 1 Gedicht ist es 1 Gedicht. Meine / Ärztin sagt, essen Sie 1 Gedicht, ich / weisz nicht wie man es kocht, sage ich“. Also ist auch diese Frage auf Mayröckerische Art abschließend geklärt, und wir müssen uns nur noch damit befassen, „wie man es kocht“. Wer das Rezept weiß: Bitte melden!

Friederike Mayröcker: „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogels Greif“. Gedichte 2004–2009. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 342 S., geb., 22,80 €.

/ Wulf Segebrecht, FAZ 28.12.

One Comment on “177. „Unangetastet von Verstehen“?

  1. Leider kenne ich die #Gedichte der Mayröcker zu wenig um ihr irgendetwas zuzusprechen oder abzusprechen. Was allerdings die zitierten Hölderlinaussagen betreffen, so sehe ich das Problem in dem Problem du mußt dein Lesen ändern, darin, das man Hölderlin nicht lesen kann, ohne Hölderlin als Philosophen zu kennen. Die Gedichte Hölderlins sind nur von der Seite der Philosophie her zu lesen. Seine Dichtung (fälschlicherweise wird er ja in erster Linie als Dichter gelesen)ist nur die Forme seiner Mitteilung.

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