74. Gedichte wie Frauen

Mit Gedichten ist es ein wenig wie mit dem weiblichen Geschlecht, von dem man früher gerne sagte, Frauen sollten einfach, in ihrer ganzen Schönheit „da sein“; nicht ihr Handeln und ihr Denken mache ihre Anziehung und ihren Wert aus, sondern ihre Existenz als solche genüge. Ihre Meinungen sollten sie für sich behalten und die Männer nicht mit ihrem Geschwätz verunsichern.

Ähnlich solle ein Dichter keineswegs erklären, was er mit seinen Versen sagen wolle. Ein vielzitiertes Wort von einem amerikanischen Dichter lautet dementsprechend: „A poem should not mean, but be.“

Und doch kann keine Ermahnung, sich einem Gedicht einfach hinzugeben und nur den gelungenen Wortlaut zu genießen, uns hinweghelfen über die so verpönte Frage nach dem Inhalt und der Bedeutung der Worte, die eben keine reine Musik sind. Es ist unvermeidlich, dass wir interpretative Fragen stellen, statt einfach „wie schön!“ auszurufen.

Denn ein Problem mit dem Lesen von Gedichten ist ja, dass man oft nicht weiß, was man mit dem einzelnen Gedicht anfangen soll. Mit einer Serie von Gedichten wird es gleich leichter, weil man sie dann in einen Zusammenhang stellen kann; ähnlich verhält es sich mit älteren Gedichten, wo man den biografischen oder historischen Hintergrund nachschlagen kann, was darauf hinweist, dass das Gedicht eben kein „Ding an sich“ im luftleeren Raum ist, sondern ein Teil seiner Umgebung. Welcher Umgebung? Wir stochern am Text herum, versuchen, uns etwas einfallen zu lassen, manchmal kommt was Gutes, dann wieder nicht. Die Dichterin ist meist froh, überhaupt gelesen zu werden, und erwartet nicht, dass sie obendrein noch verstanden wird. Der gemeine Leser fühlt sich vernachlässigt, wenn nicht geradezu verachtet. Die gelehrten wie auch die intuitiven Interpreten sind unzuverlässig. Die verschämte Bescheidenheit aber, die vom Dichter verlangt wird, hindert ihn daran, den falschen Auslegungen zu widersprechen.

Darum schütteln so viele Leute ihren Kopf bei moderner Lyrik und lesen sie kaum oder nie. / Ruth Klüger, Die Welt (auch im Standard)

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