Und Jacksons Übersetzung erfüllt das Diktum Hans Magnus Enzensbergers, dass Übersetzung von Poesie nur sein kann, was selber Poesie ist. Zieht man zum Vergleich die wörtliche Prosaübertragung Irmgard Willes und die Nachdichtung Felix Philipp Ingolds heran, wird die Leistung Jacksons deutlich. Bei Wille heißt es: „Gewiß sehe ich schlecht; denn ich bin in der Grube. Gewiß siehst du besser; denn du siehst von der Höhe: Nichts ist uns beiden gelungen. So sehr, so klar und so einfach nichts“.
Ingolds Version kommt nun recht plump und wie ein fauler Kompromiss daher: „Habe ziemlich schlechte Sicht – bin unten,/ Sicher siehst Du besser – Du bist oben:/ Nichts war zwischen uns, nichts gibt’s zu loben./ Rein gar nichts, und so entspricht’s uns beiden“.
Jackson hingegen findet, ohne den Sinn der Form zu opfern, eine stringente Lösung: „Kann ich doch von hier im Graben stehend,/ kaum so gut wie du – von oben – sehen./ Nichts ist es geworden mit uns beiden./ Nur ein schlichtes sich mit nichts bescheiden.“ Hier sitzt der Rhythmus, hier stimmt das Register. Hier ist ein Liebender am Werk. / TOBIAS LEHMKUHL, SZ 2.4.03
MARINA ZWETAJEWA: Poem vom Ende/ Neujahrsbrief. Übersetzt und mit einem Nachwort von Hendrik Jackson. edition per procura, Wien/ Lana 2003. (abrasch. Eine Sammlung für Poesie als Übersetzung) 136 Seiten, 12 Euro.
So etwas wie Sinn muss man sich hier schon selbst zusammenklauben – und der Sinn ist, dass es keinen gibt. Einen Ausweg liefert nur die Totalverweigerung: «Angela Davis löscht ihre Website.» Neumeisters Avantgardekonzept ist planvoll und konsequent durchgeschrieben, aber so richtig satt will man von diesem Sprachmüsli nicht werden. Selbstredend liegt auch das in der Natur der poetologischen Sache, entschuldigt aber nichts. Man kann es nämlich auch anders sehen: Wenn ohnehin alles eine «Vortäuschung falscher Tatsachen» ist, dann hat die wenigstens literarisch suggestiv zu sein.
Frank Schäfer, NZZ 1.4.03
Andreas Neumeister: Angela Davis löscht ihre Website. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2002. 128 S., Fr. 14.20.
Über die Versteigerung der Sammlung André Bretons berichtet die SZ am 31.3.03.
Vor allem: ein neuer Anstoss, Ungaretti zu lesen. / So die NZZ vom 29. März 2003 über
Giuseppe Ungaretti: Zeitspüren. Gedichte. Ausgewählt und aus dem Italienischen übertragen von C. W. Aigner. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2003. 155 S., Fr. 33.60.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört einfach Thomas Mann und Brecht. Thomas Mann gehört die Prosa und Brecht das Drama und die Lyrik.
Was ich Ihnen als Vermutung anbiete, ist, daß die zweite Hälfte Arno Schmidt und mir gehört. Arno Schmidt für Prosa, mir für Dramatik und die Lyrik. Das sage ich mit dem Vorbehalt eines Menschen, der wirklich weiß, daß dies eine Art von Urteilen ist, die eigentlich nicht fällbar sind. Aber ich kann ja nicht so tun, als hätte ich kein Urteil. / junge Welt 21.3.03
Peter Hacks wird heute 75. Er hat schöne und gute Sachen geschrieben – törichte auch. Man soll seine (auch seine) Texte nicht für seine Meinungen haftbar machen. Der Untergang des Sozialismus scheint ihm irgendwie als die logische Konsequenz einer Verschwörung gegen Hacks (oder umgekehrt). L&P gratuliert.
Zu seinem Geburtstag erschien ein Band mit Beiträgen von Klaus Ensikat, Eberhard Esche, Georg Fülberth, Hermann Kant, Rainer Kirsch, Wolfgang Kohlhaase, Sahra Wagenknecht etc. pp.
André Thiele (Hrsg.): In den Trümmern ohne Gnade. Festschrift für Peter Hacks. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2003, 256 Seiten, 14,90 Euro
In der NZZ vom 21.3.03 ein Gedicht des irakischen Lyrikers Ali al-Shalah, der in Zürich im Exil lebt.
Für den World Poetry Day am Freitag, dem 21. März, hat die amerikanische Organisation «Poets Against the War» zu weltweiten Lesungen gegen den Krieg im Irak aufgerufen. Diese Organisation entstand um den kalifornischen Lyriker Sam Hamill, der Lyriker aufgerufen hatte, auf der Website Poetsagainstthewar.org Lyrik gegen den Krieg beizusteuern. Der Erfolg dieser Aktion war durchschlagend: Innerhalb von kürzester Zeit lagen Texte von 12 000 Lyrikern und Lyrikerinnen vor. / NZZ 21.3.03
Ungleich wirkungsmächtiger als alle Exponate der deutschen Nachkriegsavantgarde war det jedoch für Dänemark – ein sensationeller Publikumserfolg.
Für die beiden Deutschlands: Fehlanzeige. Und Fehlanzeige für Österreich. Das mag daran gelegen haben, dass die von zynisch-witzelnden Gesten nicht freie Autoren-Mannschaft der Wiener Gruppe sich nie an der großen Gedicht-Form versucht hat. Nur aus der sprachphilosophisch beschlagenen Szene wäre ein Werk zu erwarten gewesen, das sich an die Seite von das hätte stellen können. Es bestand einfach kein Interesse für das lyrische Großformat, sieht man von einigen Arbeiten Konrad Bayers ab, der aber im Alter von 31 schon starb; mit seinem mathemathisch konstruierten der vogel singt aus den frühen Sechzigern, immerhin ein Liliput-Versuch zum langen Gedicht, das nicht schwafelt, hätte er immerhin als der kleine Bruder der großen dänischen Schwester durchgehen können.
Interesse fehlt. Und das Können. So bleibt das ein funkelnder Solitär, begonnen 1967 in Kopenhagen, nach längerer Pause in Rom zwei Jahre später beendet. Ein all-chemisches Gedicht. Eines das „schillert, changiert, wirbelt“. Ein Gedicht – Sprache ist Delphi –, das per Zufalls-Steuerung zur Welt-Anschauung gelangt ist. Etwa zu diesem Schluss: „Drehung um drehung bekommt eine andere drehung.“ / Thomas Kling, Die Zeit vom 20.3.03
Inger Christensen: det/das
Gedichte; aus dem Dänischen von Hanns Grössel; Kleinheinrich, Münster 2002; 463 S., 45,- Euro
(Irgendwie auch ein Kommentar zur nächsten Nachricht!)
Kunert über „Gedichte gegen den Krieg“ in der Zeit 13/2003:
Also was tun? Weiterwursteln in der Ambivalenz, die mit poetischen und anderen Ergüssen überdeckt wird. Seelische Betäubung ist der aktuelle Zustand angesichts einer Zukunft, deren Bitterkeit uns die Gegenwart als das verlorene Paradies erscheinen lassen wird. Als Trost wäre folgende Sentenz möglich: Stell dir vor, jeder schreibt ein Gedicht, und keiner liest es!
Der Lyriker Günter Kunert publizierte in der ZEIT Nr. 11/2003 ein Gedicht gegen den Krieg.
In der Zeit vom 20.3.03 schreibt Wolf Biermann über:
Günter Kunert: Kopfzeichen vom Verratgeber
42 Hinterglasgemälde; Ullstein Verlag, Berlin/München 2002; 111 S., Abb., 22,– Euro
Zum 65. Geburtstag des sorbisch-deutschen Dichters Kito Lorenc am 4. März hat Manfred Peter Hein 18 Gedichte des Freundes aus den Jahren 1990 – 2002 in einem schönen Heft bei Keicher (aber das war doppelt gemoppelt) herausgebracht. Gratulation! Und Dank. Und schöne Grüße in alle Richtungen. / 15.3.03
Kito Lorenc: Achtzehn Gedichte der Jahre 1990 – 2002. Auswahl von Manfred Peter Hein. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn. ISBN 3-932843-47-9
Jürgen Röhrig bespricht im Kölner Stadtanzeiger / 15.3.03:
Norbert Hummelt: zeichen im schnee, Gedichte; Sammlung Luchterhand, München 2001; 9,50 Euro.
nie Lutz, dekretiert ein (junger?) Hecht in einer alten Zeitung mit dem Namen junge Welt (15.3.03). Bitte, könn´ wir nachhelfen: Lutz Seiler. Lutz Eiffert.
In Rolf Schneiders Berliner Anthologie, Berl. Morgenpost vom 15.3.03: das Gedicht Grunewaldsee von Wolfdietrich Schnurre.
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