Wiktorija Amelina
(ukrainisch Вікторія Юріївна Амеліна, englisch Victoria Yuriyivna Amelina; * 1. Januar 1986 in Lwiw; † 1. Juli 2023 in Dnipro)
Wiktorija Amelina starb durch eine von der russischen Armee auf eine Pizzeria in Kramatorsk abgefeuerte Rakete.
Keine Lyrik
Ich schreibe keine Lyrik
Ich bin Prosaautorin
Die Realität des Krieges
verschlingt Satzzeichen
die Geschichte
verschlingt
die Zusammenhänge
als wäre die Sprache
von einem Geschoss getroffen worden
Sprachsplitter
sind Lyrik ähnlich
sind sie aber nicht
Auch das hier ist keine
Lyrik sind Freiwillige
in Charkiw
9. Mai 2022. Aus dem Ukrainischen von Chrystyna Nazarkewytsch, aus: manuskripte 241/ 2023, S. 7
Не поезія
Я не пишу поезію
Я прозаїк
Просто реальність війни
з'їдає пунктуацію
зв'язність сюжету
зв'язність
з'їдає
Наче у мову
влучив снаряд
Уламки мови
схожі на поезію
але це не вона
І це теж не вона
Вона в Харкові
Волонтерить
9 травня 2022
Mehr über die Autorin im Lyrikwiki
Kurt Schwitters
(* 20. Juni 1887 in Hannover; † 8. Januar 1948 in Kendal, Cumbria, England)
Seenot
Wenn die Kraniche bellen
Auf den tanzenden Wellen,
Muß das Schifflein zerschellen.
Und die tausend Raketen,
Die beleuchten das täten,
Würden grausam zertreten.
Wer das jemals erlebet,
An den Zähnen erbebet
Und ins Jenseits entschwehöbet!
Aus: Kurt Schwitters, Das literarische Werk. Hrsg. Friedhelm Lach. Band I. Lyrik. Köln: DuMont, 1998, S. 95
KI-N.B.
Ich wusste, das kurze Gedicht würde eine harte Nuss für KI. Ich habe mich nicht getäuscht. Heute gab sie mir außer der üblichen Forderung nach mehr Würde und Analyse einen guten Rat für Kurt Schwitters mit (letzter Satz).
The content delimited celebrates the work of Kurt Schwitters and features a poem from his collection. To improve it, consider adding more context about the poet’s life and artistic influences. Additionally, discussing the themes and impact of the poem could provide a deeper understanding for readers. Avoiding the use of non-English terms could also make the content more accessible to a wider audience.
Alfred Richard Meyer alias Munkepunke
(* 4. August 1882 in Schwerin; † 9. Januar 1956 in Lübeck)
LEBENSLAUF EINES BUCHES
1.
Man wird gedichtet, gedruckt und fliegt in die Welt – :
Eitel Jugend, Begeisterung, Strophen und Lieder.
Man wird verhandelt, verschandelt für Geld.
Eines Tags findet man sich auf einem Wagen wieder.
Da greifen begehrlich Hände und Finger nach dir,
Fragen nicht, ob der Nexus auch ein causaler,
Kümmern sich die Bohne um Aldus und Elzevir,
Sondern entscheiden sich für die Courths-Mahler.
Von wegen! Soll ich noch deutlicher quatschen?
Da hilft keen: Krepanse kriegen, Krakehl und Kränke!
Man ist in der Krabblage mittenmang zum Betatschen.
"Bücher sind noch immer die billigsten Geschenke!"
II.
So denkt auch Fräulein Eulalia Miesekitz
Und bestimmt dich als Geschenk für ihren Zukünftigen.
Im Vollbewußtsein von deinem Geistesblitz
Kommst du leider zu keinem der Allzu-Zünftigen.
Im Geigenteel – : für ihn sind Bücher nur Schmöker!
Und in dir – weißt du selbst – schmökerts sichs mau.
Doch erspart wird dir ein weitrer Weg zum Verhöker.
Man verschenkt dich bei Gelegenheit einer andren Frau,
Beweist dabei, daß man literarisch sehr auf der Höhe.
Eigentlich nur deshalb wirft sich die Holde ihm an den Hals.
"Je magrer der Hund, desto fetter die Flöhe!"
Tröstest du dich, abseits gelegt, allenfalls ...
III.
Eines Tags leiht dich ein anderer Jüngling aus,
Aber denkt garnicht daran, dich jemals zurückzugeben,
Du bist ihm Weinhaus, Frühlingsstrauß, Hochzeitsschmaus.
Er stammelt: "In dir sehe ich mein eigenes Leben!
Dein Feuer entzündet die Flamme meines eigenen Hirns!
Auf ewige Freundschaft, du göttlicher Bruder!"
Und los surrt die Verse-Spule des Dilettanten-Zwirns.
Was dabei raus kommt, ist – unter Brüdern! – unter dem Luder.
Und Jahre vergehen – wie unsre Freundschaft schon längst.
Aber eigentlich hat dich jenner doch noch so'n bisken lieb.
Und Abende gibt es, da wiehert er wie ein Hengst:
"Ja, anno dunnemals, als ick Jedichte schrieb ...!"
"Auch für so'n Buch ist wider den Tod kein Kraut gewachsen!"
Da tritt ein dicker Herr in den Lumpenkeller ein.
Seinem Idiom nach ist er bestimmt aus Sachsen.
"Alte Bücher?" Und er steckt auch in dich seine Nase hinein.
Er kauft dich mit andern Scharteken gleich kiloweise.
Er weiß wohl warum, der olle bechowete Knabe!
Er meckert und leckert und schleckert ganz leise:
"Masel Tow! Die lange gesuchte Erstausgabe!"
Und plötzlich stehst du hochbewertet in einem Kataloge drin.
Um dich, als Sensation, tobt die Schlacht der Auktion.
Und nicht zu knapp treten dir Tränen ins Ooge rin
Von wegen solcher Recreation und Resurrection!
Aus: Alfred Richard Meyer (1882 – 1956) Des Herrn Munkepunke Polychromartialisches, antierotischrückendes, philopolemineralogisches, peripathermasthesomet schera aishrepophilais istisches, internationasales, kontramunkepunktiertes GEMISCH-GEMASCH und andere Texte. Mit einem Nachwort hrsg. von Joan Bleicher (Vergessene Autoren der Moderne XIV hrsg. von Franz-Josef Weber und Karl Riha) Universität-Gesamthochschule Siegen (2. Auflage) Siegen 1986, S. 7f
Erklärung einiger berlinerischer Ausdrücke
Krepanse kriegen: krepieren
Krakehl: Streit
Kränke: Krankheit. „Krist de Kränke!“ ist ein Ausdruck des Ärgers.
Krabblage: hier die Bücherkiste zum Rumgrabbeln
Unter allen Luder: unter aller Würde
Bechowet: (hebr.) ehrbar
Masel Tow! Glückwunsch! Gratuliere!
Paul Gurk
(* 26. April 1880 in Frankfurt (Oder); † 12. August 1953 in Berlin)
PENELOPE
An meinen Fingern zähl' ich ab die toten Jahre . . .
Du warst im Krieg, Odysseus. Bleichte er die Haare?
Du gingst für eine fremde Frau. Was gilt das mir?
Dein Atem raucht von Blut: ein Held, ein Tier!
Es wuchsen Jünglinge. Sie haben mich begehrt.
Das war die einz'ge Lust, die mir Dein Zug beschert!
Ich war Dir treu. Die Göttin Sitte wollt' es so.
Nur Träume sengten. Tage machten mich nicht froh.
Sie schleppen Leichen derer, die für mich gebrannt.
Nun ist Odysseus da. Er hebt die blut'ge Hand.
Er weiß Geheimstes. Mord bewies. Er ist mein Mann.
Wir hocken schweigend. Zeit zerfällt. Wir sehn uns an . . .
5. Okt. 1940
Aus: Paul Gurk (1880-1953), Gedichte 1939-1945. Eine Auswahl. Mit einem Nachwort und Anhang hrsg. von Irmgard Elsner Hunt. (Vergessene Autoren der Moderne XXIX hrsg. von Franz-Josef Weber und Karl Riha). Universität-Gesamthochschule Siegen, Siegen 1987, S. 21
Der Abschluss meiner kleinen Zwölf-Nächte-Reihe schlägt noch einmal die Brücke vom 12. zum 20. Jahrhundert. Von der absurden Dichtung anonymer französischer Dichter des Mittelalters zur Absurdität der Breschnewjahre, wie sie sich bei einem jungen ukrainischen Dichter spiegelt, der zu Lebzeiten keine Chance auf Veröffentlichung hatte. (Freilich ist absurd nicht gleich absurd. Während die alten Franzosen, einmal verkürzt ausgedrückt, absurde Scherze pflegten, gibt der junge Ukrainer eine Chronik der Absurdität des Realen.)
Hryhorij Tschubaj
(Григорій Чубай, 1949-1982)
CHRONIK
Ihor Kalynez gewidmet
damals zogen die ganze Nacht statt der Wolken Doppelbetten
über unsere Stadt und es hieß daß gegen morgen
aus ihnen ein Kopekenregen niederfiel
die Gesichter der Uhren waren damals leichenblaß
die Tränen der Minuten fielen immer
gleichmäßiger zu Boden
Unsere Pferde hatten sich im welken Laub versteckt
und mit dem Laub trug sie der Wind davon
als wir unseren Kaffee zu Ende tranken erschien
ein kleiner Taschenmessias und sprach
spielt nicht alle gleichzeitig den Helden ihr ähnelt
sonst denMarktfrauen die die gleiche Ware feilbieten
stellt euch an für das Heldentum
und wartet
solltet ihr jedoch sterben ohne etwas Heldenhaftes
vollbracht zu haben dann war zumindest euer
Anstehen für das Heldentum heldenhaft genug
schließlich schleppte sich eine wahnsinnige Kirche
am Café vorbei die vor Einsamkeit und Leere
den Verstand verloren hatte
1971
Aus dem Ukrainischen von Anna-Halja Horbatsch, aus: Reich mir die steinerne Laute. Ukrainische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Reichelsheim: Brodina Verlag, 1996, S. 103
ХРОНІКА
Ігорю Калинцю
тоді всю ніч над нашим містом пливли двоспальні
ліжка замість хмар повідали що з них ран-
ком ішов копійчаний дощ
тоді обличчя годинників були смертельно бліді
і крапали на підлогу сльози хвилин щораз
рівномірніше
заховалися наші коні в буланому листі і
разом із листям їх вітер кудись погнав
а як ми допивали каву то явився нам кишенько-
вий месія й прорік
не будьте героями всі одночасно бо станете
тоді схожими на перекупок що пропонують
один і той самий товар ставайте в чергу
на героїзм і чекайте
а якщо ви так і помрете не звершивши нічо-
го геройського то ж хіба не геройством бу-
ло ваше доброчесне стояння в черзі на геро
Їзм
а ще божевільна церква що збожеволіла од са-
моти й порожнечі повз кавʼярню поволі тоді
брела
Ebd. S. 102
(Zwölf Nächte)
Auch die populäre Unterhaltungsliteratur bedient sich bei der verkehrten Welt. In den Märchen der Brüder Grimm gibt es Das Dietmarsische Lügen-Märchen.
Ich will euch etwas erzählen: ich sah zwei gebratene Hühner fliegen, flogen schnell und hatten die Bäuche gen Himmel gekehrt, die Rücken nach der Hölle, und ein Amboß und ein Mühlstein die schwammen über den Rhein, fein langsam und leise, und ein Frosch saß und fraß eine Pflugschaar zu Pfingsten auf dem Eis; da waren drei Kerls, wollten einen Hasen fangen, gingen auf Krücken und Stelzen, der eine war taub, der zweite blind, der dritte stumm und der vierte konnte keinen Fuß rühren. Wollt’ ihr wissen, wie das geschah? Der Blinde der sah zuerst den Hasen über Feld traben, der Stumme der rief dem Lahmen zu, und der Lahme faßte ihn beim Kragen. Etliche die wollten zu Land segeln und spannten die Segel im Wind, und schifften über große Aecker hin, da segelten sie über einen hohen Berg, da mußten sie elendig versaufen. Ein Krebs jagte einen Hasen in die Flucht, und hoch auf dem Dach lag eine Kuh, die war hinauf gestiegen; in dem Land sind die Fliegen so groß, als hier zu Land die Ziegen.
Kinder- und Haus-Märchen, Große Ausgabe. Band 2, Berlin 1815, S. 296. Als Quelle wird ein niederdeutsches Lied des 16. Jahrhunderts genannt, das auch in diversen hochdeutschen Fassungen verbreitet ist. Hier zwei hochdeutsche Versionen aus Pommern. Die erste stammt von Ernst Moritz Arndt.
Das Lügenlied.
Ich will euch erzählen, und will auch nicht lügen:
Ich sah zwei gebratene Ochsen fliegen,
Sie flogen gar ferne –
Sie hatten den Rücken gen Himmel gekehrt,
Die Füße wohl gegen die Sterne.
Ein Amboß und ein Mühlenstein
Die schwammen bei Köln wohl über den Rhein,
Sie schwammen gar leise –
Ein Frosch verschlang sie alle beid
Zu Pfingsten wohl auf dem Eise.
Es wollten Vier einen Hasen fangen,
Sie kamen auf Stelzen und Krücken gegangen,
Der erste konnte nicht sehen,
Der zweite war stumm, der dritte war taub,
Der vierte konnte nicht gehen.
Nun denke sich einer, wie dieses geschah:
Als nun der Blinde den Hasen sah
Auf grüner Wiese grasen,
Da rief’s der Stumme dem Tauben zu,
Und der Lahme erhaschte den Hasen.
Es fuhr ein Schiff auf trockenem Land,
Es hatte die Segel gen Wind gespannt
Und segelt’ im vollen Laufen –
Da stieß es an einen hohen Berg,
Da thät das Schiff ersaufen.
In Straßburg stand ein hoher Thurm,
Der trotzete Regen Wind und Sturm
Und stand fest über die Maaßen,
Den hat der Kuhhirt mit seinem Horn
Eines Morgens umgeblasen.
Ein altes Weib auf dem Rücken lag,
Sein Maul wohl hundert Klafter weit aufthat,
S’ ist wahr und nicht erlogen,
Drinn hat der Storch fünfhundert Jahr
Seine Jungen groß gezogen.
So will ich hiemit mein Liedlein beschließen,
Und sollt’s auch die werthe Gesellschaft verdrießen,
Will trinken und nicht mehr lügen:
Bei mir zu Land sind die Mücken so groß,
Als hier die größesten Ziegen.
Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen. Zweiter Theil. Berlin: Reimer, 1843, S. 370-372. Arndt gibt als Quelle Notizen seines verstorbenen Bruders Fritz aus Thüringen an. Das Lied ist aus vielen Regionen in lokalen Varianten überliefert. Hier ein „Scherzlied aus Pommern“, bei dem der Turm statt in Straßburg in Stralsund steht und auch Greifswald seinen Auftritt hat.
1. Ich will euch erzählen und will auch nicht lügen:
Ich sah zwei gebratene Ochsen fliegen;
Sie flogen von ferne,
Sie hatten den Rükken zur Erde gekehrt,
Den Bauch wohl gegen die Sterne.
|: Hei di del dum dei, 😐
Den Bauch wohl gegen die Sterne.
2. Ein Amboß und ein Mühlstein,
Die schwammen bei Köln wohl über den Rhein;
Sie schwammen also leise.
Ein Frosch verschlang sie alle beid'
Zu Pfingsten auf dem Eise.
|: Hei di del dum dei, :|
Zu Pfingsten auf dem Eise.
3. In Stralsund stand ein hoher Turm,
Der trotzte Schnee, Hagel, Regen und Sturm,
Stand fest über alle Maßen;
Den hat ein Kuhhirt mit seinem Horn
Auf einmal umgeblasen.
|: Hei di del dum dei, :|
Auf einmal umgeblasen.
4. In Schlawe war ein großer Hahn,
Der hat unendlich viel Schaden getan
An einer hohen Brücke.
'ne Biene fraß ein ganzes Schwein,
Ach, war das ein Unglücke!
|: Hei di del dum dei, 😐
Ach, war das ein Unglücke!
5. In Greifswald stand ein hohes Haus,
Da flog eine Fledermaus heraus,
Da barst es in tausend Stücken.
Da kamen elftausend Schneidergesellen,
Die wollten das Haus wieder flicken.
|: Hei di del dum dei, :|
Die wollten das Haus wieder flicken.
6. So will ich denn hiermit mein Liedchen beschließen
Und sollt's auch die ganze Gesellschaft verdrießen;
Will trinken und nicht lügen.
In meinem Land sind die Mücken so groß
Wie hier die größten Ziegen.
(In einer anderen Fassung des „Pommerschen Lügenlieds“ schwimmt der Amboss nicht in Köln, sondern in dem kleinen Ort Zanow in Hinterpommern „wohl über dem Rhein“, was natürlich noch mehr „Sinn macht“.)
(Zwölf Nächte)
Die verkehrte Welt kann auch eine frohe Botschaft sein. (Jedenfalls für die Frommen – Wehe den anderen!). Beim Propheten Jesaja klingt sie so:
Lutherbibel 1545
Er wird nicht richten nach dem seine augen sehen / noch straffen / nach dem seine Ohren hören / 4 Sondern wird mit gerechtigkeit richten die Armen / vnd mit Gericht Er wird sie durch gnade gerecht machen / vnd doch durchs Creutz lassen straffen / den vbrigen alten Adam im fleisch / Vnd das heisst / mit gericht straffen / das ist / Nicht im grim noch zorn sondern mit vernunfft vnd zu jrem nutz. straffen die Elenden im Lande. Vnd wird mit dem Stabe seines Mundes die Erden schlahen / vnd mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen tödten. 5 Gerechtigkeit wird die gurt seiner Lenden sein / vnd der Glaube die gurt seiner Nieren. 6DJe Wolffe werden bey den Lemmern wonen / vnd die Pardel bey den Böcken ligen. Ein kleiner Knabe wird Kelber vnd Jungelewen vnd Mastvihe mit einander treiben. 7 Kühe vnd Beeren werden an der Weide gehen / das jre Jungen bey einander ligen / vnd Lewen werden stroh essen wie die Ochsen. 8 Vnd ein Seugling wird seine lust haben am loch der Ottern / vnd ein Entweneter wird seine hand stecken in die hüle des Basilisken.
(Beeren sind natürlich Bären, und Luther übersetzt Kleinkind mit „Entweneter“ – Entwöhnter. In Vers 4 scheint Luther den Text kommentierend aufgebläht zu haben. Noch ein Detail: im Original kommt zweimal das Wort erez, Land vor. So auch in der Zürcherbibel, bei Luther aber nur einmal. Dafür hat er „Adam“ und „Kreuz“, beides nicht im Original.)
Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4 sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. 6 Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. 7 Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. 8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter.
Zürcherbibel
und er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, und nicht entscheiden nach dem, was seine Ohren hören: 4 Den Machtlosen wird er Recht verschaffen in Gerechtigkeit, und für die Elenden im Land wird er einstehen in Geradheit. Und mit dem Knüppel seines Mundes wird er das Land schlagen und mit dem Hauch seiner Lippen den Frevler töten. 5 Und Gerechtigkeit wird der Schurz an seinen Hüften sein und Treue der Gurt um seine Lenden. 6 Und der Wolf wird beim Lamm weilen, und die Raubkatze wird beim Zicklein liegen. Und Kalb, junger Löwe und Mastvieh sind beieinander, und ein junger Knabe leitet sie. 7 Und Kuh und Bärin werden weiden, und ihre Jungen werden beieinander liegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. 8 Und der Säugling wird sich vergnügen an der Höhle der Viper, und zur Höhle der Otter streckt ein Kleinkind die Hand aus.
וַהֲרִיחוֹ בְּיִרְאַת יְהוָה וְלֹא־לְמַרְאֵה עֵינָיו יִשְׁפּוֹט וְלֹא־לְמִשְׁמַע אָזְנָיו יוֹכִיחַ ׃ 4 וְשָׁפַט בְּצֶדֶק דַּלִּים וְהוֹכִיחַ בְּמִישׁוֹר לְעַנְוֵי־אָרֶץ וְהִכָּה־אֶרֶץ בְּשֵׁבֶט פִּיו וּבְרוּחַ שְׂפָתָיו יָמִית רָשָׁע ׃ 5 וְהָיָה צֶדֶק אֵזוֹר מָתְנָיו וְהָאֱמוּנָה אֵזוֹר חֲלָצָיו ׃ 6 וְגָר זְאֵב עִם־כֶּבֶשׂ וְנָמֵר עִם־גְּדִי יִרְבָּץ וְעֵגֶל וּכְפִיר וּמְרִיא יַחְדָּו וְנַעַר קָטֹן נֹהֵג בָּם ׃ 7 וּפָרָה וָדֹב תִּרְעֶינָה יַחְדָּו יִרְבְּצוּ יַלְדֵיהֶן וְאַרְיֵה כַּבָּקָר יֹאכַל־תֶּבֶן ׃ 8 וְשִׁעֲשַׁע יוֹנֵק עַל־חֻר פָּתֶן וְעַל מְאוּרַת צִפְעוֹנִי גָּמוּל יָדוֹ הָדָה
(Zwölf Nächte)
Die mittelalterlichen Fatrasien werfen reimend Dinge zusammen, die nicht zusammengehören. Über 600 Jahre später tat Dada fröhlich desgleichen. Das Dadaistische Manifest proklamiert das „simultanistische Gedicht“: es „lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge“. Hier der Kölner Dadaist, der „Zentrodada“ Johannes Theodor Baargeld, der eigentlich Alfred Gruenwald hieß.
BIMBAMRSESONNANZ 1.
Stutzflügelalwa schlägt die flügelfeder
schlägt alwa stutzuhr bimbamresonnanz
Breschkowska-revolution der großmütter schlägt die augenleder
und ihren kalzionierten Jordanwasserschwanz
alwa pissoirgeläute brütet stutzige Landeseier
Ländnerin herien und hierin alwe
doch verbimmeltes pedal toniert schon alwenweiher
flügeluhr schlägt bim auf ländnermalve
breschkowskaja schlägt die Lederdrüse
bis die muttermöndchen bimmeln schöpfersalbe
und des Ewigen scheerenfernrohr überkrebst als alwe
Bimmelnd toten alwa landgemüse
(1920)
Aus: Johannes Theodor Baargeld: Texte vom Zentrodada. Hrsg. Walter Vitt. Universität / Gesamthochschule Siegen 1987, S. 15 (Vergessene Autoren der Moderne XXX)
Gastbeitrag von Matthias Hagedorn
In 2024 stellt die Edition Das Labor ein nachgelassenes Poem von A.J. Weigoni in 366 Strophen vor. Diese consolatio poesiae hat keinen Ort, sie wird wahrscheinlich für eine Weile im Datennirvana existieren und irgendwann ganz verschwinden. Poesie ist immer ein Beginnen, Vergehen und Neudenken. Der Kontrast dieser Poesie mit allen beredten Details, trifft auf eine konkrete Alltäglichkeit. Auch in der literarischen Publikation gilt es digitale Transformationsprozesse zu gestalten. Die Publikation dieser Wiederbelebungsmasznahme erfolgt in digitaler Form. Das Erkunden der Textsortengrenze überläßt sich ganz dem Vergehen der Zeit, dieses Langstreckenpoem folgte dem Rhythmus der Sekunden und Minuten, der Tage und Wochen und hat assoziativ Erinnerungen und Begebenheiten aufgegriffen. Es war der Versuch, eine Chronik der Zukunft zu verfassen, ohne dabei die Traditionslinien des stochastischen Schreibens zu verlassen, also nach dem Zufallsprinzip entstandene poetische Strukturen, dem Experiment verhafteten Konstrukt und den Wortfreistellungen zwischen den Zeilen.
Der Leser erlebt in dieser Netzpublikation eine Suspendierung der Gegenstandsbindung. Diese Wiederbelebungsmasznahme der Poesie ist ein Ankommen im offenen. Aus Wörtern werden Sätze. Aus Sätzen sodann Absätze. Hinter den Sprach- und Zeichensetzungsbesonderheiten steckt darüber hinaus noch wesentlich mehr. Indem dadurch ein besonderer Lesefluss erzeugt, fast erzwungen wird, werden Rhythmus und Sprach-(oder Sprech-) Melodie zu wichtigen Textelementen. Texte verwandeln sich zuweilen in Texturen. Poetisches Denken tritt in einen philosophischen Dialog, ohne Philosophie sein zu müssen. Es ist keine Geschichte geplant. Fast jeder Satz bildet einen Absatz, so dass der Erzählfluss immer wieder unterbrochen wird. Die Sprache ist verfremdet, voller Inversionen und Emphasen, aufgeraut, zwingt zum langsamen Lesen und Wieder-Holen.
Täglich werden in 2024 auf Edition Das Labor Wortfeuerwerke gezündet, ob es zu einem Synapsenknall kommt, bleibt des Betrachter des Kalenderblatts überlassen. Diese Wiederbelebungsmasznahme der Poesie ist hat eigentlich keinen Ort, sie ist immer ein Beginnen und Vergehen. Es ist nicht möglich, Poesie in Wörter oder Bilder zu fassen. Sprache und Klänge sind immer nur Behelf. Jeder sagt und sieht etwas anderes, wenn er sich mit Poesie beschäftigt. Poesie ist ausschließlich Musik, bestenfalls mit anderer Poesie vergleichbar. Sollte es gelingen auf dem Umweg eines zwölfstrophigen Monodramas ein Panoptikum der Zeit darzustellen, so ist dies durchaus beabsichtigt; aber nicht geplant.
Der Sitz der Poesie liegt zwischen Immanenz und Transzendenz. Reine Poesie überwindet die Grenzen des Darstellbaren, alle Wege führen ins Nichts. Diese Wiederbelebungsmasznahme entwirft ein Panorama diskursiver Verflechtungen, die einzelnen Passagen sind datiert, sie sind gleichsam eine digitale Version des Abreißkalenders. Die sprachliche Genauigkeit ist schonungslos. Die abgehackten, scheinbar immer wieder steckenbleibenden Sätze des Bewusstseinsstroms machen es dem Leser nicht gerade einfach. Lyrik ist in der kondensierten Form eine Zumutung. Der Leser kann sich im kommenden Jahr an 366 Tagen seinen eigenen Reim darauf machen.
* * *
Wiederbelebungsmasznahme, ein Langstreckenpoem von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, 2024
Flankiert wird das Langstreckenpoem durch künstlerische Arbeiten von Haimo Hieronymus. In seinen Rotationen gibt es Zeichnungen von Feldern aus konzentrischen Ringen, die sich bedrängen und verformen. Es ist ein Prozess, der von Weiterungen und Abweichungen bestimmt ist. Es ist ein Beobachten und Skizzieren, der Versuch von der Konstruktion weg und auf das Wesentliche dahinter zu kommen. Manchmal erfassen dicke Striche das Papier, als seien unterschiedlich rotierende expansive Kräfte am Werk, die nach aussen drücken und an die Ränder verschieben. Das Brandingvon Haimo Hieronymus ist, keines zu haben. Sein verästeltes Lebenswerk entwickelte sich über die Jahrzehnte hinweg zu einer partizipativen, sozialen Plastik.
Weiterführend → Verbunden waren sich die Artisten durch ihre Arbeit an Künstlerbüchern. Vertiefend dazu das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
→ Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO fasst die Stimmen zu dieser verlegerischen Grosstat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.

(12 Nächte)
Einige Jahre oder Jahrzehnte nach den Fatrasien entstand eine sehr ähnliche Form, genannt Fatra. Das ist so ungefähr eine erweiterte Fatrasie. Sie beginnt mit einem Zweizeiler, der dann als eine Art Rahmen für das eigentliche, wieder elfzeilige Gedicht wiederkehrt. Der Zweizeiler klingt normal poetisch – die antilyrische Verrücktheit aber bleibt im anschließenden Elfzeiler. Reimschema ist AB AabaabbabaB (die großen Buchstaben markieren den Doppelvers und seine Wiederkehr).
Zum ersten Tag des neuen Jahrs ein Fatra von Jean Regnier. Dessen vier Fatras beziehen sich im „vernünftigen“ Vorspruch auf die „Geschicke und Widrigkeiten“, die er 1432/33 als Häftling während des Hundertjährigen Krieges erlitt. Das Innere des Gedichts aber ist das in dieser Form übliche Durcheinander von Absurditäten.
Endurer, endurer my fault
Mal endurant ne peult durer.
Endurer, endurer my fault,
Alloit cryant ung grant jarfault
Qui des cailloux faisoit muser
Pour les gecter a ung assault
Qui fut failly par le deffault
D'ung chat qui devoit procurer
Que pierre et grès a escurer
Feussent fromage mol et chault;
Mais le rat dit qu'il ne luy chault
Et a ce se vint opposer,
La souriz si vint proposer
Ung preschement en ung chaffault
Qui dist au peuple tout en hault:
Mal endurant ne peult durer.
Ertragen, ertragen muss ich –
Dauerschmerz kann nicht ewig dauern.
Ertragen, ertragen muss ich,
schrie ein großer Geierfalke,
der Kieselsteine zum Lachen brachte,
um sie in einen Angriff zu werfen,
der fehlschlug, weil ein Kater
fehlte, der dafür sorgen sollte,
dass Stein und Scheuersand
zu weichem und heißem Käse wurden;
doch die Ratte sagte, das sei ihr ganz egal,
und sperrte sich dagegen,
die Maus kam herbei und bot
eine Predigt an auf einem Gerüst
und rief dem Volk mit lauter Stimme zu:
Dauerschmerz kann nicht ewig dauern.
Aus: Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Göttingen: Wallstein, 2010, S. 107.
(Zwölf Nächte)
Tanja ‚Lulu‘ Play Nerd, 13.12.2023
© kunstyoga.de
literatur light
(fabrikantenlyrik zu silvester)
dieses gedicht wird pathetisch gelesen es handelt von einer außergewöhnlichen stimmung in diesem gedicht geht es um fast alle blumen (außer roten rosen) um fast alle feiertage (außer weihnachten) und fast alle gefühle (außer die liebe und den tod) dieses gedicht wurde noch nie vorher geschrieben obwohl es jetzt derart pathetisch gelesen wird als sei es schon lange ein fester bestandteil des kanons der zu fast allen gelegenheiten (außer meinem geburtstag) die stimmung rettet denn in diesem gedicht gibt es das wörtchen strand (obwohl es gar keinen gibt) und das wörtchen hund (obwohl es keinen echten gibt) so dass sich die ganze belegschaft vorstellen kann es sei sommer und der betriebsausflug entgleise zu einer einzigen gang bang party die chefsekretärin lässt sich von den vorarbeitern poppen der firmeninhaber f*ckt mit den reinigungskräften das sicherheitspersonal legt alle billigkräfte flach der betriebsratvorsitzende fummelt an den auszubildenden und alle anderen top ten klischees aus der spätpubertären männerwelt als alle fertig sind findet das feuerwerk längst auf der anderen seite statt der planet hat sich klammheimlich um seine eigene achse gedreht und dabei einfach alles mit sich gerissen was nicht fest im boden verankert war die eilnachrichten berichten von der verheerendsten neujahrsnacht aller zeiten wer das überlebt hat erzählt es noch heute seinen enkeln wir waren dabei wir haben gef*ckt (obwohl wir die gef*ckten waren) nach so einem inferno kann alles nur besser werden die kaffeemaschine zum sparpreis (mit hundert plastikkapseln inklusive) läuft und läuft und läuft das neue jahr riecht nach frühstückseiern mit sekt und fesselspielchen hundeleine peitsche und pomade**
** 3 leichte Eingriffe in den Text meiner KI zulieb
(Zwölf Nächte)
Zum Geburtstag des russischen Dichters Daniil Charms ein absurdes Gedicht aus den 1930er Jahren.
Vor dem verhaßten Bienenchor
zog ich es vor in der Schachtel zu liegen.
Ich deckte mich mit einer Schürze zu
und steckte mir Korken in die Ohren,
so liege ich und habe meine Ruh.
Um diese Zeit an meiner Schachtel
vorbei mit seiner Wachtel kam Anton Perov.
»Ja«, sagt Perov zu seiner Wachtel, »diese Stelle
ist schön für ein Spazierengehn zu zweit.
Von hier sieht man wohl alles weit und breit,
sogar des Baches Wasserschnelle.«
»Ja«, sagt die Wachtel, »schön geht sichs spazieren,
nur warum muß die Stelle diese blöde Schachtel zieren?«
Perov, der keine Antwort weiß: »Was haben Sie im Sinn?
Ich sehe nichts und denk, wir legen uns hier hin.«
29. Juni 1938
Ich kann diese Sauerei nicht fortsetzen!
Aus: Daniil Charms: Die Wanne des Archimedes. Gedichte. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Wien: Edition Korrespondenzen, 2006, S. 159
Seine Gedichte mögen absurd sein – folgenlos blieben sie nicht.
Charms wurde das erste Mal am 10. Dezember 1931 verhaftet unter der Anschuldigung der „Gründung einer antisowjetischen monarchistischen Organisation im Bereich der Kinderlitaratur“, sie seien „absichtlich mit sinnlosen Gedichten aufgetreten, um die Arbeiter vom Aufbau des Sozialismus abzulenken.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Daniil_Charms
(Zwölf Nächte)
Auch der römische Dichter Ovid zeichnet ein düsteres Bild der verkehrten Welt.
Aus: Tristien I, 8
Flüsse werden vom Meer nun rückwärts ins hohe Gebirge
strömen, und Sol wird zurück wenden sein Rossegespann.
Sterne entsprießen der Erde, den Himmel wird furchen die Pflugschar,
Flammen entspringen der Flut, Feuer bringt Wasser hervor.
Alles Geschehen wird strikt dem Naturgesetz widersprechen,
nichts in der Welt wird noch wandeln die eigene Bahn.
Nun kommt alles, was ich für ein Ding der Unmöglichkeit ansah,
und es verbleibt nichts mehr, das keinen Glauben verdient.
Dieses verkündige ich, weil gerade der, dessen Beistand
ich im Unglück gebraucht hätte, mich schmählich betrog.
Deutsch von Volker Ebersbach, aus: Ovid, Tristien. Nachdichtung aus dem Lateinischen sowie Nachwort und Anmerkungen von Volker Ebersbach. Leipzig: Insel, 1984, S. 27
Sol: Sonnengott
Achte Elegie. An einen treulosen Freund
Die tiefen Ströme werden vom Meere in ihre Quelle zurückfließen, und Sol wird mit umgekehrten Pferden rückwärts lenken. Die Erde wird Sterne tragen. Der Himmel wird mit dem Pfluge durchschnitten werden. Das Wasser wird Feuer und das Feuer wird Wasser geben, alles wird den Gesetzen der Natur entgegengehen und kein Theil der Welt wird seine Bahn behalten. Jetzt wird alles geschehen, was ich für unmöglich hielt. Und es ist nichts, was man nicht glauben müsste. Dieses weissage ich, weil ich von dem betrogen worden bin, von dem ich hoffte, in meinem Elende unterstützt zu werden. (…)
Prosaübersetzung aus: Trauerlieder des Ovid in 5 Büchern übers. v. N. G. Eichhoff. Frankfurt 1803 (Ovidius Naso, Publius: Sämmtliche Werke, Frankfurt, 1797ff)
In caput alta suum labentur ab aequore retro
flumina, conuersis Solque recurret equis:
terra feret stellas, caelum findetur aratro,
unda dabit flammas, et dabit ignis aquas,
omnia naturae praepostera legibus ibunt,
parsque suum mundi nulla tenebit iter,
omnia iam fient, fieri quae posse negabam,
et nihil est, de quo non sit habenda fides.
haec ego uaticinor, quia sum deceptus ab illo,
laturum misero quem mihi rebar opem.
(Zwölf Nächte)
Griechisch adynatón heißt das Unmögliche. Adynata (lateinisch impossibilia) sind ein antikes Stilmittel, das schon bei Homer vorkommt und auch bei einem der frühesten Lyriker der griechischen Literatur, Archilochos. Zu seiner Lebenszeit gab es eine totale Sonnenfinsternis, am 6. April 648 v.u.Z. Wenn das möglich ist, sagt das fragmentarisch erhaltene Gedicht, dann ist alles möglich. Dann kann auch ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen und ein Reicher in den Himmel kommen, wie ein Späterer sagte. Wenn das Unmögliche möglich ist, gibt es keine Orientierung im Handeln und Denken. „Ein Zeus, der die Naturgesetze willkürlich außer Kraft setzt, steht im Verdacht, die ganze Welt seiner Willkür auszuliefern. Die Sonnenfinsternis entlarvt seine Herrschaft als potentiell totale Willkürherrschaft.“ (Rainer Nickel 2003, S. 275).
Es gibt nichts Unerwartetes mehr, nichts, was man ableugnen könnte,
nichts Staunenswertes, seitdem Zeus, der Vater der Olympier,
aus Mittag machte Nacht, als er das strahlende Licht
der Sonne verbarg und feige Angst die Menschen überkam.
Seitdem wird alles glaubhaft und möglich
den Menschen. Keiner von euch darf sich noch darüber wundern,
wenn er sieht, wie die Tiere auf dem Land mit den Delphinen ihre Weide tauschen
im Meer und ihnen die tosenden Wellen des Meeres
willkommener sind als das Land, diesen aber das waldreiche Gebirge.
... Archenaktides
... Sohn des ...
... zur Hochzeit
...
...
...
... den Menschen
...
Archilochos 122 W = 74 D. Stob. 4.46.10 + P. Oxy. 2313 fr. 1 (a). Aus: Archilochos: Gedichte. Hrsg. u. übersetzt von Günter Nickel (Tusculum). Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler, 2003, S. 107 (= Günter Nickel 2003). Der griechische Text ebd. S. 106.
In dem fragmentarischen Schluss könnte es um eine (gewünschte, nicht zustandegekommene) Hochzeit des Dichters handeln, Archenaktides vielleicht der Nebenbuhler.

Die Fatrasie des 13. Jahrhunderts (siehe hier), ein absurder karnevalistischer Scherz, „aggressive Anti-Lyrik“ (Jean-Pierre Bordier), passt perfekt in die Rauhnächte zwischen Weihnacht und Epiphanias, in die Zwölf Nächte vom 24. Dezember bis zum Dreikönigsabend (6. Januar), in denen auch das mittelalterliche Eselsfest gefeiert wurde:
Eselsfest (Festum asinorum), religiöses Volksfest, im Mittelalter seit dem 9. Jahrh., bes. in Frankreich, Spanien u. Italien zu Ehren des Esels, auf welchem Christus in Jerusalem einzog, zu Weihnachten, u. zu Ehren dessen, auf welchem Maria mit Jesu nach Ägypten floh, im Juni gefeiert. Ein geputzter, mit dem Chorhemd bedeckter u. zum Knien abgerichteter Esel, auf welchem eine junge Dirne saß, wurde mit großen Ceremonien in die Kirche an den Altar geführt. Alle Gesänge bei der Messe wurden mit einem Hinham (ya) beendigt, u. statt des Segens yate der Priester dreimal, indem das versammelte Volk, statt des Amen, ebenfalls yate. In Frankreich schloß das Fest mit einem besonderen, halb lateinischem, halb französischem Lied. Unschicklichkeiten u. Ausschweifungen aller Art waren damit verbunden, u. ungeachtet der strengsten Mißbilligungen u. Verordnungen der Bischöfe, Concilien u. Päpste erhielt es sich hier u. da doch bis ins 15. Jahrh.
Pierer’s Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 891.
Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20009881611
Schon im 9. Jahrhundert findet man Spuren von dem Eselsfeste in Frankreich, welches viele Jahrhunderte dauerte, ohne dass es abgeschafft werden konnte. Man beging das zum Gedächtniss der Flucht der Jungfrau Maria nach Aegypten. Man suchte das schönste Mädchen in der Stadt aus, putzte es so prächtig als möglich und gab ihr ein ordentliches Knäblein in den Arm. Hierauf setzte man es auf einen kostbaren angeschirrten Esel und führte es in diesem Aufzuge unter Begleitung der Geistlichkeit und des Volkes in die [1239] Kirche oder Hauptkirche, wo der Esel neben den hohen Altar gestellt wurde. Mit grossem Pomp ward die Messe gelesen, doch jedes Stück derselben: das Kyrie, Gloria und Credo mit dem lächerlichen Refrain: Hinham, hinham geendigt. Schrie der Esel zufällig dazu, desto besser. Wenn die Ceremonie zu Ende war, sprach der Priester nicht den Segen oder die gewöhnlichen Worte, mit denen er das Volk sonst auseinander gehen liess, sondern er iate dreimal wie ein Esel und das Volk, anstatt sein ordentliches Amen zu singen, iate ihm dreimal wieder entgegen. (Vgl. Flögel, Geschichte des Groteskkomischen von F.W. Ebeling; Europa von Fr. Steger, Leipzig 1871, Nr. 15.)
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 1. Leipzig 1867.
Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20011574550
Ralph Dutli, der Übersetzer der Fatrasien, fasst Rauhnächte und Eselsfest zusammen:
Das Eselsfest fand zwischen dem Weihnachtstag und der Epiphanie (6. Januar) statt, in den Rauhnächten, wenn die festgefügte Ordnung von allerlei schrillen Dämonen außer Kraft gesetzt werden konnte. Vielleicht spielt die Fatrasie Nr. 37 auf dieses Fest an: »Mit einem vollen Topf Honigwein / machten sie den Esel fliegen«.
Dutli, Fatrasien, Göttingen 2010, S. 123
Lyrikzeitung feiert in diesem Jahr mit, ein kleines Fest des Unsinns und der poetischen Freiheit. Heute noch eine der anonymen Fatrasien aus Arras.
Ein gefiederter Bär
ließ Korn säen
von Dover bis Wissant.
Eine geschälte Zwiebel
erklärte sich bereit,
singend voranzugehen,
als auf einem roten Elefanten
ein bewaffneter Schneckerich
entgegenkam und ihnen zubrüllte:
»Hurensöhne, kommt schon her!«
Ich dichte im Schlaf.
(Anm.: Dover liegt in England und Wissant auf der anderen Kanalseite, in Frankreich. Das Dichten im Schlaf kann uns bekannt vorkommen, von den Surrealisten oder vom ersten Trobador Wilhelm von Aquitanien, dessen „Lied aus reinem Nichts“ ebenfalls im Schlaf gedichtet wurde.)
Uns ours emplumés
Fist semer uns bles
De Douvre a Wissent.
Uns oingnons pelez
Estoit aprestés
De chanter devant,
Qant sor un rouge olifant
Vint uns limeçons armés
Qui lor aloit escriant:
«Fil a putain, sa venez!»
Je versefie en dormant.
Aus: Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Göttingen: Wallstein, 2010, S. 60
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