Reimender Leistungskomiker

Darf man über diesen feuilletonistisch heilig gesprochenen und allseits geliebten Lyrik-Klassiker der Jetztzeit überhaupt noch etwas Frevelhaftes sagen? Die frenetische Robert Gernhardt-Bejubelung hat ja seit dem annus mirabilis 1997, als der Dichter sein 60. Lebensjahr vollendete, derart Schwindel erregende Ausmaße erreicht, dass als griesgrämiger Spielverderber erscheint, wer sich der spröden literaturkritischen Profanierung des Meisters widmet.

fragt Michael Braun (FR 9.10.02) und tuts:

Der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen ist oft verschwindend klein.
Wenn Gernhardt so verblüffend formsicher die altehrwürdigen Volksliedstrophen, Sonette, Couplets oder Balladen reaktiviert, ist das nicht immer ein Akt großartiger Anverwandlung. Allzu oft gibt sich Gernhardt willig einer poetischen Routine hin, die im Bewusstsein handwerklicher Solidität Gedichte am Fließband hervorbringt. Diese Routine erlaubt es ihm auch, leichthändig ein Sonett über die Ereignisse des 11. September zu produzieren und dabei „von eignen Gnaden“ auf „Usama Bin Laden“ zu reimen. Bei einem sakrosankten Dichter ist eben kein gnädiges Lektorat mehr da, das vollkommen uninspirierte Gedichte wie die über den Formel 1-Stumpfsinn des „Großen Preises von Canada“ oder über den „Klassiker Deutschland-Holland“ verhindern würde. Gnadenlos schlechte Gedichte, die sich an einer Tagesthemen-Sendung entzünden („Scheiß drauf! Ob es auch anderen schwerfällt, / beim Anblick der Stealthbomber cool zu bleiben?“), kann sich ungestraft nur noch ein Gernhardt leisten.

Robert Gernhardt: Im Glück und anderswo. Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002, 284 Seiten, 19,90 Euro

Lyrische Schweiz

Doch entdeckt werden wollen (und sollen) vor allem die hierzulande weniger Präsenten: etwa Erika Burkarts „Familienballade“, die einem Zustand zustrebt, „in dem sich das Schweigen / ein neues Gehör schafft“, oder Lajser Ajchenrands Trauer- und Gedächtnistexte über den Holocaust in jiddischer Sprache, diverse Mundart- und Dialektdichtungen (u.a. von Manni Matter, Franz Hohler, Berti Jütz), Silja Walters Verse, schön und zerbrechlich wie ein Tanz aus Glas, Armin Sensers rauschhaftes poetologisches Langgedicht „Großes Erwachen“ oder auch Jürg Federspiels Humoreske „Hinterlass ein Zeichen“: „Mal einen Strich. Und schreib: Wer so hoch / pinkeln kann, melde sich bei der Feuerwehr“. …  Die wunderbarste Leistung dieser „schönsten Gedichte der Schweiz“ wirkt paradox: Rasch vergisst man nationale Zugehörigkeiten und versinkt statt dessen in die grenzenlose Schönheit der Poesie. Oft sind es die kleinen Verlage, die großartige Bücher hervorbringen. / Thomas Wild, SZ 9.10.02

PETER VON MATT und DIRK VAIHINGER (Hrsg.): Die schönsten Gedichte der Schweiz. Verlag Nagel & Kimche, München / Wien 2002. 260 Seiten, 16,90 Euro.

Weitere Besprechungen in der SZ-Literaturbeilage vom 9.10.02:

MIODRAG PAVLOVIC : „Einzug in Cremona“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2002. 184 S., 22,90 Euro.

die Oktoberausgabe der Zeitschrift Akzente (litauische Lyrik) Carl Hanser Verlag, München 2002, 7,30 Euro

Er hätte zum Götterliebling

der Nachkriegslyrik werden können. Kein zweiter Jungdichter der beginnenden fünfziger Jahre verstand sich so souverän auf das lyrische Rollenspiel mit mythischer Maskerade. Da war die traumwandlerische Sicherheit beim Umgang mit den Beständen der römischen Kulturgeschichte und der christlichen Heiligenlegenden. Und da war das bildungsstolze Bewusstsein, dass all die kulturhistorischen Materialien im Zeitalter des «grössten Synkretismus, den es je gab», zur uneingeschränkten Verfügung stehen. / Michael Braun über Kuno Raeber, BAZ 8.10.02

Avantgarde der Individualisierung

«Wir haben ein Land aus Worten» – so viel Tribut an die Rolle des Nationaldichters muss sein. Aber Vorsicht: Den Halbvers verschattet Enttäuschung. Kein Land haben die Vertriebenen, nur Worte, einen poetischen Selbstentwurf, gewiss, doch der Weg wird lang und länger. Darwish hat auf diesem Weg das Persönliche und dessen Entgrenzung ins Universale entdeckt. Vier Prosagedichte eröffnen den Band als «private Anschriften» – eine Kampfansage an jede Lektüre, die ihn nur als Volkes Stimme begreift. …

Der Mann, dessen Gedichte so machtvoll die verlorene Heimat beschworen, der ein «Land aus Worten» schuf, muss nach der Heimkehr feststellen, dass er sich durchs Dichten der Heimat beraubt hat: Die dem modernen Gedicht eigene Selbstreflexion hat ihn auf eine Suche nach dem eigenen Ich geschickt, die ihn dem Kollektiv entfremdet. Literatur wird hier zur Avantgarde einer Individualisierung im Zeichen der Kulturvermischung, die der arabischen Gesellschaft noch bevorsteht./ Ludwig Ammann, NZZ 8.10.02 über

Mahmud Darwisch
Wir haben ein Land aus Worten
Gedichte. Arabisch und deutsch.
Aus dem Arabischen übersetzt und mit einem Nachwortversehen von Stefan Weidner.

Etwa 220 Seiten. Englische Broschur.
EUR (A) 17.40/ EUR 18.50 / CHF 29.50
ISBN 3250300136

Gedicht für Stotterer

Eine schon etwas ältliche Nachricht (aber nicht schlecht):
Der hannoversche Dada-Künstler Kurt Schwitters (1887-1948) ist Schulpate geworden. Der Avantgarde- Maler, Bildhauer und Lyriker leiht seinen Namen der „Rheinischen Schule für Sprachbehinderte“ des Landschaftsverbandes in Düsseldorf. Das teilte der Landschaftsverband Rheinland (LVR) am Montag in Köln mit. Nach Ansicht der Schulleitung gebe es „fast direkte Bezüge“ zwischen der Arbeit der Schule und den Sprachexperimenten des Künstlers, der auch ein „Gedicht für Stotterer“ geschrieben hat.
Hannoversche Allgemeine 8.10.02

Paul Wühr

Der Münchner Lyriker Paul Wühr erhält den diesjährigen Hans- Erich-Nossack-Preis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung wird am Samstag verliehen. Neben Paul Wühr aus München werden noch weitere Autoren, Künstler und Musiker ausgezeichnet. Begleitet wird die Tagung von Lesungen, Konzerten und einer Kunstausstellung mit preisgekrönten Werken. (sda/dpa) / St. Galler TAGBLATT vom Samstag, 5. Oktober 2002

Litauen als terra incognita,

das war schon immer so, aber gerade dieses Andere zog auch die Träume, Wünsche und Sehnsüchte vieler Intellektueller an. Zwischen endlosen Wäldern und sanften Hügel, zwischen Seen und Sümpfen, da, wo eben noch Feen, Nixen und Zwerge gehaust hatten, schien der Ursprung zum Greifen nah. Je sichtbarer der Fortschritt um sich griff, desto mehr wurde dieser Mythos zur Utopie: Goethe und Herder verehrten die Lieder der litauischen Fischer und Bauern, Thomas Mann suchte und fand in den Dünen von Nida das «Erlebnis des Elementaren», Johannes Bobrowski betrieb in seinen Gedichten und Romanen die Suche nach der verlorenen Zeit der litauischen Kindheit, wie es polnischerseits Czeslaw Milosz («Das Tal der Issa») und Tadeusz Konwicki («Das Loch im Himmel») taten. Polens romantische Dichter kultivierten die litauische Saga besonders enthusiastisch, und ausgerechnet der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz sollte der grösste Sänger Litauens werden – wobei mit «Litauen» freilich das hoch patriotische Phantasma eines dem Kronland Polen überlegenen litauisch-polnischen Grossreiches gemeint war. / Andreas Breitenstein, NZZ 5.10.02

Weitere Beiträge zu Litauen:

Too little too late
Was die litauische Literatur an «harter Währung» hergäbe

Das vierte Mal oder Litauische Metamorphosen

Arbeit am Mythos
Ein kurzer Überblick über die litauische Literaturgeschichte

Wer war Else?

Die FAZ präsentiert heute ein unbekanntes Gedicht und eine unbekannte Liebe von Gottfried Benn. Das Gedicht beginnt so:

Liebe –

dies Wort wollen wir garnicht in die Diskussion werfen
ich bleibe ja doch in mir allein
aber ich sehe dich gern an
ich fühle dich gern an
ich esse gerne mit dir
wir sprechen so freundschaftlich mit einander
sind den ganzen Tag auf einer zärtlichen Ebene
ach – morgen
weisst du was davon / FAZ 5.10.02

Tod eines Dichters

Zuerst starb am 5. Juli in Los Angeles der fünfundneunzigjährige Bernardas Brazdzionis . Seit er 1944 vor der Roten Armee in den Westen geflohen war, hatten seine Gedichte nur ein Thema: die unterdrückte Nation und ihr Streben nach Freiheit. Als er 1989 nach Litauen zurückkehrte, wurden solche Verse benötigt. Um Literatur ging es dabei nur in zweiter Linie – die Auftritte von Brazdzionis waren politische Demonstrationen, seine Gedichte die Losungen dazu. Diese Reihenfolge gilt für sein ganzes in der Emigration entstandenes Werk: Es stand im Dienst einer Sache, die ihm wichtiger war als literarisch-ästhetische Kriterien. Sein Verständnis von der Rolle des Dichters und der Dichtung faßte Brazdzionis vergangenes Jahr in einem Satz zusammen, mit dem er ankündigte, daß er keine Gedichte mehr schreiben werde: „Meine Mission ist erfüllt.“ / FAZ am 5.10.02 in einem Beitrag zur litauischen Literatur aus Anlaß der Buchmesse

Das kleinste Teilchen des Gedichts

sei mithin in der Lage, alles zu bedeuten. Das ist die Zuspitzung eines Satzes, mit dem Czernin unlängst einen manifestartigen Text in der Wiener Literaturzeitschrift «kolik» (Heft 18) begann: «So bedeutet jedes Gedicht nicht weniger als alles . . .» Und vermutlich ist derselbe Sachverhalt berührt, wenn es in dem Gesprächsbuch «Voraussetzungen» heisst: «Deshalb kann eine Dichtung ja auch nichts Bestimmtes bedeuten und verweist immer auf den, der etwas bedeuten lässt.» / Leopold Federmair, Neue Zürcher Zeitung, 3. Oktober 2002

Franz Josef Czernin: elemente.sonette. Verlag Carl Hanser, München 2002. Fr. 31.20
Franz Josef Czernin: Voraussetzungen. Vier Dialoge (= Essay 49). Literaturverlag Droschl, Graz 2002. EUR 12.-.

Debatte um Amiri Baraka,

Poet Laureate des Staates New Jersey und älteren Lesern vielleicht bekannt unter dem Namen Leroi Jones, der in einem Gedicht die Behauptung kolportiert, 4000 jüdische bzw. israelische Mitarbeiter des WTC wären am 11.September gewarnt gewesen.

Poet Laureate Stands by Words Against Israel and Won’t Step Down (NYT October 3, 2002*)

New Jersey’s Poet Dilemma (NYT October 4, 2002*)
Leserbriefe

Krier

Immer wieder klaubt Krier zerbrochene Redensarten auf, auch Bruchstücke von Zitaten, aus der Bibel, von Beckett, Hölderlin oder Enzensberger, Goethe, Novalis oder Verlaine. Französische Sprachfetzen werden neu eingebunden. Die Perspektive der Texte ist die erhaschte Spur aus dem Augenwinkel, ihre akustische Aufmerksamkeit bleibt auf Neben- und Störgeräusche gerichtet. Doch unter dem Firnis von Bedrohung und Verlust glänzt als heimlicher paradoxer Grund das poetische Gelingen: «Lass uns / einen Leuchtturm bauen, wo keiner ihn sieht -». / Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung , 2. Oktober 2002

Jean Krier: Tableaux – Sehstücke. Mit Bildern von Max Neumann. Gollstein-Verlag, Blieskastel 2002. 96 S., Fr. 29.50.

Zeit-Literaturbeilage

In der Zeit-Literaturbeilage bespricht Susanne Riedel (Koeppenpreis 2002) Dieter M. Gräf und Thomas Kling bespricht Tomas Venclova („Odysseus vom Mare Balticum“). Uwe Kolbe berichtet über eine Übersetzerwerkstatt für litauische Texte (Akzente 5), und Olga Martynova stellt eine litauische Anthologie vor.

Dieter M. Gräf : Westrand Gedichte; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002;
158 S., 15,- €
Tomas Venclova : Vor der Tür das Ende der Welt Gedichte; aus dem Litauischen von Rolf Fieguth, interlinear von Claudia Sinnig-Lucas; Hanser Verlag, München 2002;
95 S., 13,90 €

Litauische Poesie der Gegenwart Edition Akzente, Heft 5, Okt. 2002; Hanser Verlag, München 2002;
7,30 €
diverse : Vierzehn litauische Dichter Anthologie; Vaga Verlag / Athena Verlag, Vilnius / Oberhausen 2002;
152 S., 16,90 €

/ 2.10.02

Poesie der Freiheit

ZEIT: Sie sagen, es gebe in der arabischen Kultur einzigartige Qualitäten. Welche?
Adonis: Die liegen immer außerhalb der Regierungen. Das beginnt mit der vorislamischen Poesie. Sie ist außergewöhnlich und hat das Niveau der großen griechischen, indischen und chinesischen Dichtung. Eine Poesie der Freiheit, der Liebe, des Körpers. Abu Nawas hat zur Zeit der Abessiden dasselbe getan wie Baudelaire: Er hat die Stadt in neuem Licht gesehen, das Alltagsleben – den Wert des Vergänglichen und des Ewigen. Er sagte immer: Mich interessiert nur das Verbotene. Das Verbotene ist mein Königreich. …

Immer wenn die Religion nichts vorschreibt, ist die arabische Kultur großartig. Poesie, Philosophie, Musik, Kunst – warum war die arabische Architektur so absolut außergewöhnlich? Weil es keine religiösen Referenzen und Vorschriften gab. Alles, was in der arabischen Kultur frei davon ist, ist außergewöhnlich.
/ Interview mit dem syrischen Dichter, Die Zeit 41/2002

Wort-Börse

Wo der nördlichste Markierungspunkt auf Karin Sanders Stadtplan von New York platziert ist, in der 116. Straße in der Gegend des St. Harlem Marktes, hat Chaibou Harouna einen Laden für Handschuhe und Schals. Er spricht Hausa, die offizielle Sprache in Nord-Nigeria, und weil er sie nicht schreiben kann, hilft ihm seine Kollegin Linda. „Guten Morgen“ schreiben sie auf einen Zettel, aber das eigentliche Wort, das Karin Sander für ihr Projekt bei ihm einsammeln ließ, wird noch nicht verraten. Endgültige Gewissheit gibt erst die Ausgabe der New York Times am kommenden Freitag, die an diesem Tag auch einer bestimmten Anzahl der Mittagsausgabe der Frankfurter Rundschau (nur im Straßenverkauf an den großen Frankfurter Ausfallstraßen) beiliegen wird. …
Karin Sander, Jahrgang 1957, bat für ihr Projekt Word Search 250 eingewanderte Bürger der Stadt, ein für sie besonders typisches Wort in ihrer Muttersprache zu notieren. Die Vokabel-Ausbeute von Afrikaans bis Zulu lässt Sander auf einer Seite im Börsenteil der New York Times abdrucken. „Kunst statt Konjunktur“ formuliert Sander, die das vergängliche Medium für einen Tag zur linguistischen Sprachskulptur werden lässt und dabei Denkanstöße über Begriffe wie Kapital und urbanes soziales Gefüge geben will./ FR 2.10.02

Vgl. auch Lyrikzeitung & Poetry News 09/2002. Mehr über das Projekt bei Deutsche Bank – art.info .