Hans-Ulrich Treichel

In Rolf Schneiders Berliner Anthologie (Berl. Morgenpost) am 18.1.03 ein Gedicht von Hans-Ulrich Treichel.

„Das saß, damals.“

„In einer Station der Metro / / Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge: / Blütenblätter auf einem nassen, schweren Ast.“ (Ezra Pound) Das saß, damals. Und das auch: „J. Alfreds Prufrocks Liebesgesang / Komm, wir gehen, du und ich, / wenn der Abend ausgestreckt ist am Himmelsstrich / wie ein Kranker äthertaub auf einem Tisch; / komm, wir gehen durch die halbentleerten Straßen fort, (…) / Oh, frage nicht ‚Wie bitte?‘, / komm, wir gehen zur Visite. / Frauen kommen und gehen und schwätzen so/daher von Michelangelo. (T. S. Eliot)

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, welche Wirkung solche harmlosen Verse im Jahr 1960 noch auslösen konnten. Hermetische Gedichte, dunkel, unverständlich und – offenbar deshalb – provozierend. Man konnte sie gezielt einsetzen, der Effekt war garantiert, sonntags, beim Mittagessen in der kleinbürgerlichen Familie, in der Schule, den Universitäten. „Frauen kommen und gehen und schwätzen so /daher von Michelangelo.“ Eine gängige Währung. Damit konnten wir, die Jungen, es ihnen, den Alten, regelrecht heimzahlen. Solche kleinen, harmlosen Gedichte zündeten wie Sprengsätze im gesunden Menschenverstand. Sie waren allerdings mit dieser Absicht gemacht. Sie waren so gemeint. / Martin Lüdke, FR 18.1.03, zur Neuherausgabe von

Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.): Museum der Modernen Poesie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002, 867 Seiten, 19 Euro

Irak: Dichter im Exil

Für den in Deutschland lebenden Lyriker, Romancier und Essayisten Fadhil al-Azzawi sind es nach wie vor die Intellektuellen, die die Wahrheit über die Seelenlage und die Sehnsucht der Iraker nach Freiheit zum Ausdruck bringen. Auch Al-Azzawi ist nicht glücklich über den Umgang der irakischen Opposition mit ihren Exilgefährten, den Intellektuellen: Manche von ihnen würden am liebsten Kultursoldaten sehen und den Rest gern in einen Käfig sperren, ob unter dem jetzigen Regime oder dem künftigen der Amerikaner. Al-Azzawi ist verärgert über die Redaktion von „Al-Quds Al-Arabi“, die die irakischen Intellektuellen auch deshalb um Stellungnahmen gebeten hat, weil sie der Auffassung ist, daß diese sich aus der Diskussion über die Zukunft des Landes allzusehr heraushalten.

Die Intellektuellen, so schreibt der Dichter aus dem deutschen Exil, hätten stets die Stimme der Freiheit ihres Volkes verkörpert. Dafür habe sich der irakische Diktator an ihnen gerächt. Al-Azzawi saß im Irak drei Jahre im Gefängnis und wurde, wie er erklärt, 1980 ausgebürgert. Sein Haus in Bagdad wurde konfisziert. Verantwortlich dafür soll ein anderer Dichter gewesen sein, der ihn denunziert habe. Al-Azzawi ist zuversichtlich, daß, so oder so, das Ende von Saddams Herrschaft naht. Wie die meisten Intellektuellen ist auch er gegen jede Art von Krieg, gegen den einkalkulierten Tod von Unschuldigen und gegen die drohende Verwüstung des Landes. Trotz allem Geschehenen werde sich das Volk wieder aufrichten: „Bagdad wartet schon auf die Rückkehr seiner verlorenen Söhne.“

JOSEPH CROITORU
Al-Muatamar Nr. 331 vom 20. Dezember 2002

Al-Quds Al-Arabi vom 9. und 10. Januar 2003
Frankfurter Allgemeine Zeitung , 17.01.2003, Nr. 14 / Seite 34

Causa Belli

Über ein Antikriegsgedicht des britischen poet laureate Andrew Motion berichten die BBC News .

Causa Belli by Andrew Motion

They read good books, and quote, but never learn
a language other than the scream of rocket-burn
Our straighter talk is drowned but ironclad;
elections, money, empire, oil and Dad.

(FAZ kommentiert „die verworrenen Einwände“ Motions neben „ausfälligen Wortmeldungen von Le Carré, Pinter und Konsorten“, 17.1.03 – Konsorten, d.i. Salman Rushdie. Zeitung von Welt! – Zum Vergleich der Bericht der NZZ, 22.1.03)

Walser über Hölderlin

Die Dichter, nicht alle natürlich, aber die, sagen wir einmal, die zuverlässigsten, die sind nicht so leicht ins Positive verführbar gewesen. Zum Beispiel Hölderlin.

In der Konkordanz, die wir Professor Böschenstein verdanken, habe ich nachgezählt: Im Spätwerk kommt kein Wort so häufig vor wie „Gott“, „Götter“, „göttlich“, 320-mal. „Himmel“ und „Himmlische“ 280-mal. Aber wie kommen diese Wörter vor! So, dass der Leser unmittelbar mitschwingt, wenn die Hölderlin-Sprache diese Wörter anstimmt. Man kann’s natürlich interpretieren. Aber es genügt auch das bloße Nennen. Das ist sogar das meiste. Das Nachbeten nämlich. Ich habe immer nichts lieber getan, als Hölderlin-Verse nachzubeten. Eines dieser Gedichte muss hier genannt werden, ein ganz spätes, das, überschriftslos, so lautet:

Was ist Gott? unbekannt, dennoch
Voll Eigenschaften ist das Angesicht
Des Himmels von ihm. Die Blitze nämlich
Der Zorn sind eines Gottes. Je mehr ist eins
Unsichtbar, schicket es sich in Fremdes. Aber der Donner
Der Ruhm ist Gottes. Die Liebe zur Unsterblichkeit
Das Eigentum auch, wie das unsere,
Ist eines Gottes.

Die Zeit 04/2003 [zugleich unsere Gratulation für Susan Sontag zum 70. – im Kursiv]

/16.01.03

Preise für Czernin und Zauner

Jdl. Der erstmals vergebene Heimrad-Bäcker-Preis geht an den österreichischen Schriftsteller Franz Josef Czernin. Die mit 8000 Euro dotierte Auszeichnung wird für ein herausragendes Werk vergeben, dass in der Tradition der sprachexperimentellen Literatur steht. Die Jury würdigt in ihrer Begründung die «progressive Universalpoesie» Czernins und die «radikal skeptische Position» seiner Lyrik. Gestiftet wurde der Preis vom Verleger Heimrad Bäcker, in dessen Linzer «edition neue texte» viele wichtige Werke der österreichischen experimentellen Literatur erschienen sind. Der mit 3500 Euro dotierte diesjährige Förderpreis geht an den Wiener Hansjörg Zauner. / NZZ 15.1.03

Poesiepreis der Stadt Münster 2003

Der serbische Lyriker Miodrag Pavlovic und sein deutscher Übersetzer Peter Urban erhalten den Poesiepreis der Stadt Münster für das Jahr 2003. Die mit 15 500 Euro dotierte Auszeichnung soll den Autoren am 18. Mai beim Lyrikertreffen in Münster überreicht werden. Mit der Ehrung wird der Lyrikband «Einzug in Cremona» gewürdigt. Pavlovic gehe in dem Text illusionslos mit historischen und legendären Personen um, begründete die Jury ihre Entscheidung.

/ 13.01.03

Die Perle des Wortes

In der SZ 13.1.03 rezensiert RALF BERHORST:

FRIEDRICH OHLY: Die Perle des Wortes. Zur Geschichte eines Bildes für Dichtung. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002. 389 Seiten, 29,90 Euro

Hans-Ulrich Treichel

Den Wahl-Leipziger Hans-Ulrich Treichel stellt die Leipziger Volkszeitung am 13.1.03 vor.

Rudyard Kipling

Über Rudyard Kipling als frühen Autonarren schreibt am 13.1.03 die Süddeutsche – so klingen K.s Berichte über eine Reise durch Frankreich im eigenen Auto von 1911:

„Hotel Metropole, Montpellier. Schlecht, teuer und raffgierig.“ In Chartres: „Wie immer: Der Heißwasserhahn war kalt.“ „Cabourg nach Caen: Straße überfüllt. 76 Autos auf 31 Meilen.“

Mehr: Guardian 11.1.03

Writers On America – 15 Reflections

Die taz und Süddeutsche begutachten heute (13.1.03) eine amerikanische Propagandabroschüre , an der namhafte Autoren mitwirkten, darunter Billy Collins ( What’s American About American Poetry?) , Robert Creeley ( America’s American ) und Robert Pinsky (A Provincial Sense of Time).

Dienst an Shakespeare

Übersetzung war ihm „Dienst am Original“. Diese Haltung tut besonders wohl angesichts der Shakespeareschen „Sonnets“, in die durch Jahrhunderte allzuviel hineinprojiziert wurde, weil sie angeblich den Blick ins Herzen (sic) eines Autors erlaubten, von dem man fast nichts wusste. Diese Projektionen haben auch manche Übersetzung beeinträchtigt. Paul Hoffmann jedoch nahm sich diese Gedichte fern allem lebensgeschichtlichen Interesse an ihrem Verfasser vor. Ihn interessierten sie vorrangig als poetische Gegenstände, von denen er nichts anderes erhoffte, als dass sie auch im Deutschen zu guten, vielleicht erstklassigen Gedichte werden mochten. Die „Freude am Umschmelzen“, die er beim Übersetzen empfand und von der die Herausgeberinnen, die Witwe Eva Hoffmann sowie Annette Werberger im Vorwort sprechen, teilt sich auch noch beim Lesen dieser Ausgabe mit. / Kurt Oesterle, Schwäbisches Tagblatt 11.1.03 über

William Shakespeare, Dreißig Sonette, Englisch / Deutsch, übertragen von Paul Hoffmann. Attempto Verlag, Tübingen 2002. 97 Seiten, 19,90 Euro

München in Italien

Zu diesem Glück mag auch die Wahlheimat seit 1986 gehören, Italien. Dort scheint München präsenter zu sein als in München selber, das München, wie es einmal war. Dort lässt sich auch ungestörter die bestechende Rhythmik und die vertrackte Gedanklichkeit des poetischen Hauptwerks weitertreiben. «Denn», so Wühr, «das Arbeitsverhältnis mit der Poesie hört nicht auf.» / Beatrice von Matt, NZZ 11.1.03 über

Paul Wühr : Was ich noch vergessen habe. Ein Selbstgespräch. Aufgezeichnet von Lucas Cejpek. Literaturverlag Droschl, Graz 2002. 99 S., Fr. 22.-.

Afrika: Pro und Kontra Landessprache

Über das schwierige Verhältnis von eigener und (kolonialer) Fremdsprache in Afrika schreibt der senegalesische Autor Boubacar Boris Diop:

Ich bin mir bewusst, dass die Möglichkeit, auf Wolof zu schreiben, auch ein Privileg darstellt, das nicht allen afrikanischen Literaturschaffenden gegeben ist. Es gibt Sprachen, für die gar keine Schriftform existiert und die nie in einem kulturellen oder akademischen Kontext gefestigt wurden. Die meinige dagegen verfügt seit dem 19. Jahrhundert über die Schrift, zunächst die arabische und dann die lateinische; Literaturfähigkeit bewies das Wolof schon Ende der 1920er Jahre, als Seriñ Musaa Ka im Gedicht «Xarnu bi» (Das Jahrhundert) die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf seine Heimat schilderte. Mittlerweile ist in Senegal ein derartiger Aufschwung der in den Landessprachen Pulaar, Sereer und Wolof verfassten Literatur auszumachen, dass die französischsprachige Produktion bald ins zweite Glied zurücktreten könnte. / NZZ 11.1.03

André Breton und die Fotografie

L’oeil existe à l’état sauvage“ – Das Auge lebt im Urzustand. Mit dieser verblüffenden Feststellung eröffnete André Breton 1925 den ersten einer Reihe von Essays, in denen er darzulegen suchte, daß die im „Surrealistischen Manifest“ publizierten Ideen zum psychischen Automatismus nicht nur für die Literatur, sondern auch für die bildenden Künste Gültigkeit besäßen. … Die Verknüpfung des Theorems vom Schriftsteller als „Registriermaschine“ mit der Definition des „automatischen Schreibens“ als „wahrer Fotografie des Denkens“ macht deutlich, daß dem Konzept der „écriture automatique“, der Kernidee der surrealistischen Poetik, ein positivistischer Fotografie-Begriff zugrunde lag./ Herbert Molderings, FAZ 11.1.03

Mehr heute: Eine Rezension von Gedichten des englischen Barockdichters George Herbert bei perlentaucher.de / Norbert Mecklenburg über Paul Celan: Du liegst im großen Gelausche