Mann in Schwarz

763 Wörter, 4 Minuten Lesezeit.

Heute vor 100 Jahren erhängte sich der Dichter Sergej Jessenin in einem Hotel in Leningrad. Die krassen Details aus der Jesseninbiografie von Fritz Mierau:

Am Morgen des 28. Dezember gegen halb elf will Jelisaweta Ustinowa Jessenin zum Frühstück holen, sie klopft vergebens. Erlich kommt. Die Tür muß mit einem Ersatzschlüssel geöffnet werden. „Ich betrete das Zimmer: das Bett ist nicht angerührt, das Chaiselongue leer, der Diwan ebenfalls, ich sehe nach oben und erblicke ihn in der Schlinge am Fenster.“ Der Hoteldirektor benachrichtigt die Polizei. In dem offiziellen Bericht von Inspektor N. Gorbow vom 28. Dezember 1925 heißt es:

»Als ich am Ort eintraf, fand ich einen Mann am Zentralheizungsrohr hängen, und zwar in folgender Haltung: sein Hals steckte nicht ganz in der Schlinge, sondern nur die rechte Seite, sein Gesicht war dem Rohr zugewendet, und die rechte Hand klammerte sich an das Rohr, der Körper hing direkt unter der Decke, die Füße befanden sich 1½ Meter über dem Boden; in der Nähe der Stelle, über der der Erhängte gefunden wurde, lag ein umgekippter Nachttisch, der Kandelaber war auf den Fußboden gefallen. Als der Körper aus der Schlinge genommen wurde, fand man bei der Untersuchung an der rechten Hand unterhalb des Ellbogens auf der Innenseite einen Schnitt, am linken Handgelenk Schrammen und einen blauen Fleck unter dem linken Auge, er trug graue Hosen, ein Nachthemd, schwarze Socken und schwarze Lackschuhe.“

Jessenin hatte sich in den Morgenstunden des 28. Dezember 1925 an einer Kofferschnur erhängt.

Aus: Fritz Mierau: Sergej Jessenin. Leipzig: Reclam, 1991, S. 419f

Hier ein Gedicht in der Übertragung von Rainer Kirsch, eingebettet in Passagen aus Mieraus Biografie.

Sergej Jessenin 

(russisch Сергей Александрович Есенин, auch Esenin; * 21. September jul./ 3. Oktober 1895 greg. in Konstantinowo, Gouvernement Rjasan, Russland; † in Leningrad)

Der Mann in Schwarz präsentiert die erbarmungslose Innenansicht des glücklosen Aufrührers.

Mann in Schwarz –
durch das gräßliche Buch fährt er mit dem Finger, 
und wie ein Mönch näselnd 
über wem, der schon aufgebahrt ruht, 
liest er aus dem Leben irgendeines Halunken und Trinkers, 
erfüllt mir die Seele mit trostloser Trauer und Furcht.

Mann in Schwarz, 
schwarzer, schwarzer Mann.

„Hör zu, hör zu!" 
Er murmelt, er zischt mich an –
„Dies Buch ist voll herrlicher 
Pläne und schöner Gedanken.
Dieser Mensch
lebte in einem Lande 
der widerwärtigsten 
Pogromhelden und Scharlatane.

Im Dezember der Schnee 
ist verteufelt rein dortzuland, 
und die Schneestürme treiben 
lustig das Spinnrad zum Schnarren.
Jener Mensch war ein Abenteurer und Vagant, 
doch von der besten 
und berühmtesten Marke.

Elegant war er, 
zudem ein Poet, 
nicht sehr stark, 
doch mit zupackenden Händen, 
und irgendeine Frau 
von vierzig und mehr 
nannte er Liebste 
und sein ungezogenes Mädchen.

Glück – sagte er –
ist Geschicklichkeit des Geists und der Hände.
Als unglücklich kennt man 
nur Seelen, die ungeschickt sind.
Was machts denn, 
daß jede verlogene Geste
Schmerz dir 
und Qualen bringt?

In Gewittern, in Stürmen, 
in der Eiskälte des Lebens, 
wenn du alles verlierst, 
wenn du traurig bist, 
einfach zu scheinen und nur zu lächeln, 
ist die höchste Kunst, die es gibt." 

Es ist nicht das Gedicht eines Märtyrers, sondern eines unbestechlichen Beobachters. Jessenin hat das Gedicht nach Angaben von Sofja Tolstaja an den Abenden des 12. und 13. November 1925 abgeschlossen. Sie schreibt: „Die das Gedicht hörten, fanden, daß die letzte Textfassung kürzer und weniger tragisch sei als die, die Jessenin früher gelesen habe. Wenn Jessenin von diesem Gedicht sprach, wies er immer auf den Einfluß von Puschkins ,Mozart und Salieri‘ hin.“ Puschkin hatte einen „Mann in Schwarz“ bei Mozart das Requiem in Auftrag geben lassen: Das Requiem ist fertig, aber Mozart ist beunruhigt und sagt zu Salieri, den Puschkin zum Mörder Mozarts macht:

Er läßt mir keine Ruhe Tag und Nacht.
Der Mann in Schwarz verfolgt mich überall –
ein Schatten. Auch in diesem Augenblick 
erscheint es mir, als säßen wir mit ihm 
zu dritt.

Zwei Wochen vor Jessenins Tod begegnet Nikolai Assejew dem Dichter: „An diesem Abend las er den ,Mann in Schwarz‘, ein Gedicht, auf das er großen Wert legte und an dem er, seinen Worten nach, über zwei Jahre gearbeitet hatte. – Und hinter diesem Gedicht erhob sich vor mir der andere Jessenin, nicht der allbekannte mit dem für alle gleichen freundlichen Lächeln, nicht das Gesicht des ,Draufgängers‘ mit dem blonden Lockenschopf, sondern das lebendige, echte, inspirierte Gesicht eines Dichters, ein Gesicht, das gewaschen war von der Kalte der Verzweiflung und plötzlich erfrischt vom Schmerz und von der Angst vor seinem Spiegelbild […] Die Maske des Lächelns und der Naivität fällt in der Einsamkeit. Vor uns liegt das zweite, das qualvolle Leben des Dichters, der an der Richtigkeit seines Weges zweifelt, der an der ,Ungeschicklichkeit seiner Seele‘ leidet, die nichts anderes sein will als sie selbst.“

Ebd. S. 403ff. Die Passage aus Puschkin übersetzt von Fritz Mierau.

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