Einige Gedanken zur Form anlässlich der Fünfzeiler von Fabian Schwitter (3)

Von Bertram Reinecke, Leipzig

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(Mit Bertram Reineckes Essay startet die Ausgabe 4 des L&Poe-Journals. Erwarten Sie mehr in den nächsten Tagen. Das Gedicht des heutigen Tages finden Sie unter diesem Beitrag).

Poetik versus Poetik des Essays

Hier noch abschließend ein Wort zur Machart des Essays, weil das nochmals ein Schlaglicht darauf wirft, wie Schwitter seine eigene Dichtung sieht. Schwitter organisiert oft den diskursiven Raum, indem er eine Achse durch das Bedeutungsfeld legt, die das Symbolische stark wertend scheidet.[1] Mitunter könnte man sogar mit Lotman von sujethaften Plots ohne topografischen Raum sprechen. Dies sei an einem Beispiel mitvollzogen, das am Ende direkt Bezug nimmt auf seine Fünfzeiler: Maschinen sind in seinem Essay entweder durchgängig mit Negativem behaftet, z.B. verhängnisvoll in die deutsche Geschichte verflochten, verbunden mit Sklavenarbeit der Fabrikarbeiter, unmenschlich, zumindest jedenfalls verbunden mit Fragwürdigem wie dem Genie oder dem Roman.[2] Ebenso kritisch scheinen Werkzeuge zu sein, sie sind wiederum verbunden mit den Maschinen, Sprache in ihrem Werkzeugcharakter wird charakterisiert anhand von billigen Spruchweisheiten und der Psychoindustrie usw. 

Maschine und Werkzeug gehen vollständig auf im negativ Instrumentellen und Funktionalen, das sich auf der einen Seite der Achse durch den symbolischen Raum befindet.

Auf der anderen Seite steht die Welt des menschlich Sozialen, der Freiheit der Kunst usw. Es ist dies sicher eine sehr ehrwürdige Unterteilung des Feldes, sie erinnert an Kants Scheidung zwischen instrumenteller Vernunft und der freien Urteilskraft, oder in der Schillerschen Fassung: der freie spielende Mensch macht sich unabhängig von der geschäftigen Alltagstätigkeit. Aber nicht nur ehrwürdig ist diese Unterscheidung, sie wurde in wesentlichen Aspekten immer wieder bis heute erneuert. George meinte, seine Werke enthielten keine Tendenzen (wären also interesselos, nichtfunktionell), wer weltanschauliche Richtungen darin sähe, wäre zur Höhe der Kunst noch nicht fortgeschritten. In der Nachkriegszeit haben KünstlerInnen angesichts des in den Nazijahren geschehenen Missbrauchs denjenigen Tendenzen misstraut, die Kunst von ihrer Wirksamkeit her dachten. (z.B. Brecht usw.) Und Stolterfohts Kunsthaftigkeit lässt sich ebenfalls noch verteidigen, indem man sie von der Welt des Funktionalen fortrückt. So sagt Schwitter, Stolterfohts Texte parodierten „auf das Trefflichste eine Welt des Setzkastenkonsums, indem dieser Dichter seine sprachlichen Versatzstücke nach witzigen statt funktionalen Regeln zusammenbaute.“[3]  Andere GegenwartsdichterInnen kokettieren zumindest mit der Vorstellung des instrumentellen Scheiterns als Vorbedingung von Poesie. Schwitter erwägt etwa anlässlich von „Helm auf Phlox. Zur Theorie des schlechtestmöglichen Werkzeugs“, inwieweit ein Hauch Indifferenz der Kunst guttue, um schließlich zu bekennen, dass es vor den materiellen Tatsachen wohl kein Entrinnen geben mag. 

So also sieht die Teilung des Feldes aus. Für einen sujethaften Plot braucht es noch einen Helden, der sich durch den aufgespannten symbolischen Raum bewegt und die unüberwindlich scheinende symbolische Grenze übertritt. Über Stolterfoht heißt es, er baue seine Poesie aus „witzigen statt funktionalen Regeln“ und an anderer Stelle: „Dann könnte das Zufällige […] an die Stelle des Genuinen treten und das Schreiben von Gedichten würde zu einer wohltuend bescheidenen Arbeit.“ Aber offenbar bleibt er letztlich doch auf der einen Seite der Grenze gefangen: „Aber was, wenn Stolterfoht gar kein Parodist wäre, sondern nur aufzeigte, was passiert, wenn wir nicht mehr wissen, wie wir die Einzelteile passend zusammensetzen?“[4]

Nicht ohne Verwunderung sieht Schwitter sich selbst zuletzt in der Rolle dieses Überwinders der symbolischen Grenze gerückt. (Bevor der Essay sie später durch einen Hinweis auf den Zürcher Literaturstreit verwischt, verschiebt bzw. aus den Augen verliert). Während er sich zunächst auf der sozusagen falschen Seite der Grenze gefangen vorfindet: „Wahrscheinlich ist die Verwendung der Sprache als Werkzeug unhintergehbar, weil die Verständigung einer ihrer frühesten Zwecke war“, entdeckt er sich zuletzt nicht ganz ohne Beschämung an der anderen Seite neben Stolterfoht: „Und wenn ich ein Wort ändere, ändert sich der gesamte Satz des Gedichts, sodass sich die Systemrelevanz des einzelnen Worts erst recht zeigt. Ist das – beinahe im Geist der Aufklärung – eine längst fällige Ergänzung zu Stolterfohts Setzkastenparodie?

Mir ist, aber ich weiß gar nicht, ob ich das will, als drückten Gedichte dieser Art – und ich erinnere mich dabei an die gleichzeitig erhobene Forderung an die Arbeiter:innen, grenzenlos flexibel zu sein – das klaustrophobische Ineinandergreifen der zweckrationalen Zahnrädchen einer kapitalistischen Wirtschaft weit besser aus als die Fiktion des fleißigen Romanciers.“ Wir kommen auf dieses Kunstmodell in Bezug auf seine Fünfzeiler noch einmal zurück, wollen aber noch kurz bei dem Grundgedanken dieser Essayabschnitte verweilen.  

Während dieser hier geschilderten (wie soll man es nennen?:) Binnenerzählung spannt sich Schwitters Denkbewegung in diesem ethischen Dualismus zwischen instrumenteller Welt (des Kapitalismus) und dem Reich der Freiheit der Kunst. Dabei gerät vollkommen aus dem Blick, dass die Theoretiker, denen die Werkzeugmetapher der Sprache besonders wichtig war, kaum an die Spannung dieser beiden Reiche dachten, sondern dass die Werkzeugmetapher einen anderen Zweck hatte, nämlich ein anderes Set von Metaphern im Nachdenken über die Sprache außer Kurs zu setzen: Die Transportmetaphern. Sprache sollte nicht mehr als eine Art Gefäß gedacht werden, in die man etwas Ominöses wie Gedanken oder Vorstellungen gleichsam hineinfüllt, um dies einem Gegenüber zu überbringen. Ebenfalls unter Verdacht geraten damit auch diejenigen Konzepte von Referenz, in denen diese Relation nicht als innersprachliches Phänomen betrachtet wird, sondern in Redeweisen ausgedrückt wird, wie etwa der, dass das Wort „Baum“ sich auf Bäume in der Wirklichkeit bezöge.[5]

Wie wenig an die Schillersche Scheidung der Reiche gedacht war, erhellt schon daraus, dass gerade derjenige, der besonders hartnäckig von Werkzeug und Werkzeugkasten in Bezug auf Sprache schrieb, nämlich Ludwig Wittgenstein, auf dem gleichen Weg auch den Sprachspielbegriff prominent machte und damit dieselben Phänomene (wenn auch in anderer Hinsicht) in den Blick nimmt. Es gibt also hier die Teilung der Welten nicht, auch wenn kontinentaleuropäische Philosophen die Vertreter derjenigen Richtungen, die sich auf den Sprachspiel- und Werkzeugbegriff stützten (also z.B. analytische, postanalytische, Ordinary Language Philosophie und Pragmatismus) immer wieder verdächtigten, sie ließen ein Höheres, wie es sich unter anderem in der Kunst zeigen könnte, außer acht[6] oder negierten es gar.[7]

Wohlgemerkt, auch Fabian Schwitter leugnete nicht, dass man sich dem Werkzeugcharakter nicht entziehen kann, für ihn ist das aber eine Frage der Empirie und nicht eine des theoretischen Modells.

Ansonsten liegt es letztendlich natürlich auch für Fabian Schwitter auf der Hand, dass selbst noch das unpraktikabelst gedachte Kunstwerk sich nicht nur vom bösen Markt, sondern auch von den lieben Mitmenschen des Lyrikpublikums ohne weiteres vereinnahmen lässt. Dabei kann gerade der Gedanke an diese reine Zweckfreiheit der Kunst im Gegensatz zum Instrumentellen des Marktes Bedingung dieser Möglichkeit sein: Wenn zum Beispiel Ulf Stolterfohts Publikum bei seinen Lesungen die Möglichkeit erhält, sich als freie, ästhetisch sensible Menschen zu erleben.[8] Oder bei Schiller: Nur so lange konnten Deutschlehrende Schillers Glocke ihren Schülern als einen Ausdruck des „Allgemein Menschlichen“ nahelegen, als ihren Schülerinnen das pathetische bürgerliche Programm dieses Textes (das schon die RomantikerInnen verspotteten) nicht augenfällig wurde usw.  

Schließlich findet er einen Ausweg aus dem über mehrere Dutzend Seiten gespannten binären Feld. Das sieht dann so aus:  

„Während Staiger, Fackelträger des reinen Geistes, die moralisch-erhabene Dauerhaftigkeit einer klassischen Literatur verteidigte, setzte Frisch dem auf dem Höhepunkt des Streits eine Literaturvorstellung entgegen, die in aufklärerischem Sinn nicht zur Beschönigung neigt. […] Tatsächlich betreute mit Sandro Zanetti zwei Generationen nach Staiger ein Professor meine Doktorarbeit, der sich in der Schreibprozessforschung längst auch den materiellen Seiten der Literatur zugewandt hatte. Insgesamt aber überwiegt an den Universitäten, wie ich sie vor allem in Zürich und Leipzig kennengelernt habe, nach wie vor die schöngeistige Auffassung der Literatur.“

Tatsächlich scheint mir an diesem Ausweg Verschiedenes bemerkenswert. Zunächst bleibt er grundsätzlich der aufgemachten ethischen Differenz verpflichtet, indem er anzudeuten scheint:  Wenn es keine lautere, der instrumentellen Vernunft enthobene Kunst gibt, dann ist es an uns eine ethische, nämlich aufklärerische Haltung zu unseren Zwecken einzunehmen.

Zweitens hat die Bemerkung insgesamt wenig Strahlkraft. Wenn der Ausweg seit über einem halben Jahrhundert in den Annalen der Literaturgeschichte bereit liegt, warum hält der Vortext so lange an der aufgemachten Spannung fest?[9]

Damit verbunden die nächste Frage: Wenn das Problem sich auch an heutiger Dichtung noch stellt, warum geht Schwitter hier auf Staiger zurück, der fachhistorisch ja eher ein toter Hund ist?[10] Ich jedenfalls habe schon in den 90ern im Germanistik Grundkurs beigebracht bekommen, dass die Verbreitung der Richtung der werkimmanenten Interpretation in der Germanistik der jungen Bundesrepublik eine Nachwirkung des dritten Reichs insofern ist, als Germanisten mit dem Ruf „Nur der Text“ sich ihrer Mitverantwortung für das Geschehen zu entziehen suchten.[11] Das Scheitern dieses Versuches wurde auf den Zürcher Literaturstreit datiert.[12]

Zuletzt: Ich hätte mir an solchen Stellen, nämlich wo der Autor die Frage nach Interessen und Aufklärung selbst in den Raum stellt, ein zupackenderes Nachfragen gewünscht! Woran liegt es, dass in Zürich Staiger noch eine Nummer ist? An der besonderen Tradition der Uni, an welchem Muff unter welchen Talaren? Woran liegt es, dass in Leipzig, wenn auch nicht Staiger, so doch jene schöngeistige Literaturauffassung vorherrscht, die Schwitter kritisiert? Hat das auch damit zu tun, dass der Umbruch der Universität nach der Wiedervereinigung unter der Ägide einer erzkonservativen Biedenkopfadministration mit traditionellem Kulturverständnis stattfand, in einer Zeit, als die Frage nach dem Interesse gänzlich aus der Mode gekommen schien? Wie hat das die spätere Berufungspraxis geprägt?[13]


[1]    So geht er oft auch in seinen Feuilletons vor, er schrieb schon u.a. für die NZZ oder die FAZ. Ein Beispiel hier:  https://fabian-schwitter.com/die-politik-des-freien-verses/ (Der Zweiteilung fällt dadurch hier zum Opfer, dass man zwischen einem freien Vers, der auf ein Versschema bezogen bleibt und der einfachen umgebrochenen Zeile unterscheiden könnte, in der man keinem Versschema mehr verpflichtet ist.)

[2]    Der als Ergebnis einer Gewerbefleissökonomie angewandt auf die Literatur betrachtet wird. Man mag den seit dem 18. Jahrhundert gegen die AutorInnen der Pariagattung erhobenen Vorwürfe der Vielschreiberei hier wiedererkennen, gekleidet in ein sozialgeschichtliches Gewand. 

[3]    Auch wenn ich selbst Stolterfohts Poetik eher von Wittgenstein her lese, gebe ich zu, dass einige seiner poetologischen Äußerungen diese Lesart rechtfertigen, etwa, wenn er in seiner „Münchner Rede zur Poesie“ mehr scheiternde Gedichte in einer Welt des Gelingens auf hohem Niveau einfordert.  

[4]    Stolterfoht  ist also nur der Held des restitutiven Vorspanns, der die Unüberwindlichkeit der Grenze beglaubigen soll, sozusagen der Prinz, der sich in den Dornen verhakt und nicht zur Prinzessin vordringt. Schwitters etwas distanzierte Lektüre von Ulf Stolterfoht hat mich insgesamt besonders überrascht. (Auch im Vergleich mit dem, was er zu Oswald Egger sagt.)  Ich finde z.B. die Vergleiche, die Schwitter zur Verdeutlichung von Stolterfohts Poesie heranzieht, stark irreführend. Er vergleicht dessen Poesie mit einem Setzkasten, und beruft sich dafür auf die jeweils exakt gleiche Strophen/Zeilenzahl und Zeilenzahl pro Strophe, die die Texte der einzelnen Konvolute von dessen Fachsprachenprojekt jeweils aufwiesen. (Überdies bringt er diese Gleichartigkeit noch in Verbindung mit der Wiedererkennbarkeit von Markenartikeln.) Man könnte zwar einerseits natürlich wie Schwitter sagen, er bilde eine Folge von vollkommen gleichartigen Gegenständen, müsste sich aber fragen lassen, welchen Wert es hätte, in einem fort so gleichartige und reizarme Schauobjekte herzustellen. Im Grunde würde ich es gerade umgekehrt ausdrücken, seine Texte scheinen sagen zu wollen: Hier gibt es nichts im Vorhinein zu sehen, man muss sich immer neu auf das lesend einlassen, was einen erwartet. (Gedichte wie Objekte in einem Magazin, wo man aus vollkommen gleichen Schubladen immer neue Gegenstände hervor zieht.)  Vor allem legt der Begriff Setzkasten nahe, Stolterfoht würde seine Zitatfunde uns nun abgegrenzt präsentieren, sie sozusagen in ihrer heilen Schönheit ausstellen. Dabei geht es ihm ja eher um die unentwirrbare Verschränkung dieser Funde zu neuen Kontexten. 

Dass dies nicht bloß ein unbedachter Fehlgriff in der Wahl der Metapher ist, sondern Systematisches über Schwitters Lektüre des Dichters verrät, zeigt eine weitere unglückliche Verbildlichung für Stolterfohts Poesie: Er vergleicht dessen Arbeit mit dem Zusammenbau von Ikeabauteilen. Dies legt nahe, dass etwas aus an sich langweiligen und immer gleichen Bausteinen entstünde, dabei erstaunt es mich immer wieder, aus welch entlegenen und für ein Gedicht zunächst unerwartbaren Regionen Stolterfoht interessante Materialien heranzieht. Und Schwitter erwähnt das ja auch, sodass mich die Hartnäckigkeit, mit der er mehrmals auf das Ikeabild zurückkommt, besonders verwundert. Auch hier wird nahegelegt, dass das Baumaterial unverändert übernommen würde. Das Ikeabild kann zudem nahelegen, dass etwas absehbar Erwartbares aus diesen Bausteinen entstünde. (Und dann noch: Werden standardisierte Bauteile verwendet, müsste es möglich sein, diese innerhalb des Gedichtes und auch zwischen den Gedichten zu vertauschen!) Zuletzt noch kehrt er ein Diktum Monika Rincks gegen den Dichter, indem er implizit behauptet, durch seine eigene Arbeitsweise würde er den Bildern die von Rinck geforderte Flexibilität geben, die sie bei Stolterfoht nicht hätten, was mir gerade angesichts der Stolterfohtschen Kippfiguren und dessen rhetorischen Quecksilbrigkeit ziemlich unangemessen vorkommt.

Fast sieht es aus, als hätte sich Schwitter an Stolterfoht irgendwie wundgelesen, als wäre eine intensive Lektüre für ihn enttäuschend verlaufen.

[5]    W.v.O. Quine parodiert dieses Konzept unter dem Schlagwort „Der Mythos vom Museum“. Wittgenstein gibt ihm einen streng begrenzten Wirklichkeitsbereich für gewisse rudimentäre Sprachspiele, die stark in einem Gerüst von innersprachlichen Rahmenbedingungen verankert sind. 

[6]    Die auch von Schwitter beklagte Spaltung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften ist, wenn schon nicht in erster Linie, so doch nicht zuletzt auf diese Art, seinen Gegenstand größer und interessanter zu machen, zurückzuführen. Auch kann der Geisteswissenschaftler eventuell seine geringen mathematischen Fähigkeiten umdeuten zu einer Begabung in einem Sonderreich, zu dem eine instrumentell mathematisch naturwissenschaftliche Denkweise keinen Zugang hätte. 

[7]    Schwitters akademischer Lehrer, der amerikanische Sprachphilosoph David Kaplan, kommt genau auf diese Weise etwas unter die Räder, als er einzig wegen seines Bezug auf den Werkzeuggedanken im Buch auftaucht als Startpunkt für ein kritisches Nachdenken über Sozialtechniken und die Psychoszene. Was mir besonders in Bezug auf den tiefreligiösen Erfinder dieser Sprechweise, also Ludwig Wittgenstein geradezu monströs erscheint.

[8]    Dass dies eine Vereinnahmung ist, zeigt sich insoweit, als dasselbe Publikum, das dem Großdichter aufgeschlossen gegenübertritt, einer weniger bekannten Stimme mit ähnlich ambitionierten Anliegen mitunter mit schroffem Desinteresse entgegentritt. (Man sucht den Anschluss nur an das, was man für das Beste hält.) 

Eine weitere Gegenprobe: Teile des Publikums nehmen es zum Anlass, das Werk junger Dichtender abzuwerten, sollten diese sich unterstehen, ihr Werk von der Bühne her zu erläutern – selbst wenn diese Erklärungen dem Publikum hilfreich waren. Je bekannter oder wenigstens älter die Dichtenden sind, desto weniger Abwehr löst man damit aus: Je eher ein Vorsprung an Weltkundigkeit oder Erfahrung dem oder der Lesenden im Vorhinein zugestanden wird, desto weniger bedeutet eine Erläuterung die Aufkündigung des Paktes der Kundigen.

[9]    Ist des eine riesige Captatio Benevolentiae, weil er sein Publikum einer solchen schöngeistigen Literaturbetrachtung verfangen glaubt? Ist es eine Taktik, weil seinen Arbeiten etwas Mathematisch-Maschinelles in der Vergangenheit zugeschrieben wurde? Will der Autor also zeigen, dass er mit den Argumenten der Kritik der instrumentellen Vernunft durchaus vertraut ist? Sind das Gedanken, die ihn umtreiben und sein eigener Ausweg überzeugt ihn nur halb? Oder ist das einfach ein Erzähltrick zur Organisation des Materials? Oder ganz banal: Sind die Anmerkungen zu Staiger in einer späten Stufe der Bearbeitung hier nur etwas unglücklich hineingeraten? 

[10]  Weil Schwitter nach dieser Stelle mit Frisch ostentativ dazu übergeht explizit auf das Material eigener Erfahrungen zurückzugehen und Staiger ebenfalls einen Bezug zu Zürich hat? 

[11]  Das spricht natürlich nicht gegen diejenigen, die mit einem Rückzug auf stille Philologie eine völlig durchideologisierte Öffentlichkeit geistig überlebten. Sie sind allerdings auf das „nur“ in dem Slogan letztlich gar nicht angewiesen! Mich reizte, kurz nachdem ich einer Gesellschaft entgangen war, die noch jede Literatur, die ihr missliebig wurde, mit der Frage Cui Bono? unter Druck setzte, dieses Schlagwort. Mir taten die Vertreter dieser Richtung etwas Leid, stellte ich mir unter ihren Schriften doch etwas ähnliches vor, wie unter denen der russischen Formalisten, der Strukturalisten oder den Vertretern des Close Reading. Ich träumte mir also wie ein Schulmeisterlein Fix meine eigene germanistische Epoche zusammen.  (Alte westliche Fachliteratur war ja wenig vorhanden in der UB und man konnte sie, mangels Internetbuchhandel, auch nur besorgen, wenn man mal in einer westdeutschen Stadt im Antiquariat Glück hatte). Das Mitgefühl mit dieser Denkschule verlor sich schlagartig, nachdem mir ein Band von Emil Staiger in die Hände gefallen war, dessen Wertneutralität mir ungefähr so plausibel erschien wie die  „Unparteilichkeit“ Stefan Georges.  Auch ärgern seine in Bezug auf den Kanon vergesslichen Generalisierungen über „Die Literatur“, die ihn eher daran interessiert zeigen, sein Publikum zu leiten, als am genauen Blick auf die Vielfalt der Texte. 

[12]  Und dies war nicht gerade eine Besonderheit der Greifswalder Universität: Im Jahre 2005/6 untersuchte ich eine Reihe von Einführungen in die Germanistische Literaturwissenschaft aus den 90er und frühen 0er Jahren, diese Darstellung war im Wesentlichen Stand des Faches. 

[13] Es ist ja nicht immer nur der böse kapitalistische Markt oder der Zeitgeist, sondern Menschen haben mit bestimmten Interessen bestimmte Entscheidungen unter bestimmten Rahmenbedingungen getroffen. 

12 Comments on “Einige Gedanken zur Form anlässlich der Fünfzeiler von Fabian Schwitter (3)

  1. Verflucht, das Problem liegt wirklich an der Seite. Kommentare springen einfach irgendwo hin… 🙂

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    • Nein nein, die springen nicht. Wenn die irgendwo doppelt sind, hat sie jemand doppelt gepostet. Oder an die falsche Stelle gestellt. Springende Kommentare gibt’s nicht. Ein Problem könnte sein, dass bei den vielen Kommentaren viele sehr ähnlich aussehen, so dass die Antwort mal hier, mal da angefügt wird. An dem Tag, als die doppelten Kommentare auftauchten, war ich unterwegs und kam spät zurück. Vielleicht ist das Springen auch beim Löschen wieder passiert. Wenn ihr mal heute Abend keine Kommentare schreibt, werde ich versuchen, die Kommentarbäume zu reparieren.

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      • Da also, Bertram hat es auch schon bemerkt, gehe ich meiner Rhetorik auf den Leim und lasse Präzision vermissen. Mir schien, es habe bei Bertrams Kommentar der Antwort-Button gefehlt. Also habe ich einfach geantwortet. Und der Kommentar erschien dann oben. Insofern ist er „gesprungen“. Und dann bemerke ich auch, dass beim Anmelden Ungereimtheiten auftreten. Ich erscheine beim Öffnen der Seite üblicherweise als angemedet, muss mich dann aber erst abmelden und erneut anmelden, um einen Kommentar posten zu können. So kam es dann auch zur seltsamen Dopplung der Kommentare, weil mir da einen Moment lang einiges schleierhaft und ich nicht sicher war, ob der Kommentar nun gepostet war oder nicht.

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      • Das weiß ich natürlich nicht. Aber wenn jemand zum ersten Mal postet, muss ich den Kommentar freischalten. Alle weiteren gehen dann live ins Netz. Ich habe die Freischaltung nur ein einziges Mal vorgenommen.

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  2. Naja, ich glaube tatsächlich, dass der Perspektivwechsel zwischen dem einzelnen Gedicht und der „äusserlichen“ Gesamtheit einer Herausforderung ist. Zugeben muss ich, dass ich mit dem Nachdenken natürlich noch nicht so weit bin, eine hieb- und stichfeste Theorie präsentieren zu können. Dass es in Bezug auf Stolterfohts fachsprachen jedoch eine hierarchische Theorie unterschiedlicher Ebenen braucht, wobei sich Ebenen auch widersprechen können, scheint mir evident. Wie diese Theorie genau auszusehen hätte bzw. wie das Verhältnis einzelner Ebenen zueinander zu bestimmen wäre, ist natürlich offen. Leider fand genau das, und ich hätte es als den Kern von meiner ganzen Nachdenkerei über Egger und Stolterfoht (wobei nicht über Rinck) gehalten, keinen Platz in der Dichtung, weil meine Lektüre eines namhaften evolutionstheoretischen Werks, aus dem ich diesen ganzen Kram habe, vorschnell von der Obrigkeit unterbrochen wurde. Ich habe diese Lektüre nach meine Zeit an der Uni nachgeholt bzw. vervollständigt und einen Toros eines wissenschaftlichen Artikels geschrieben, der zu lang für herkömmliche Publikatonsorgane ist und ohnehin keinen Ort mehr finden wird, seit ich keine Uni-Anbindung mehr habe. Ob nun Stolterfohts Anordnung der fachsprachen als Setzkasten qualifizieren könnte oder nicht, hängt natürlich von den konkreten Vorstellungen eines Setzkasten einerseits ab und andererseits vom Problem, dass sich das geschichtete Buch zuerst zu einem zweidimensionalen Nebeneinander fügen muss.

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  3. Das Setzkastenbild stellt natürlich auf die äussere Form ab, d.h. die rechteckigen und gleichbleibenden Strophen innerhalb einer Gruppe von neun Gedichten. Das vorausgesetzt (und vielleicht auch etwas Heissenbüttel im Hinterkopf), lässt sich das Erscheinungsbild zu einem Schema abstrahieren. Das betrifft aber, wie gesagt, nur die äussere Form, die ich auch als Architektur im Gegensatz zur Innenarchitektur zu fassen versucht habe. Oder auch mit der Entgegensetzung von Form und Struktur. Während für die Form der Setzkasten meines Erachtens druchaus stimmig ist, wäre sicherlich genauer zu eruieren, inwiefern er auch für die Struktur taugt bzw. in was für einem Verhältnis diese dann zueinander stehen.

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  4. Und für einmal eine Sachfrage ein Detail betreffend:

    Es gleicht wahrscheinlich einer illegitimen Immunisierung, bezüglich der Überlegungen zu Stolterfoht einzuwenden, es handle sich doch lediglich um eine Sichtweise, die überdies noch einem bestimmten Kontext verhaftet ist. Bertrams Einwände treffen einen bedenkenswerten Punkt. Die Entlegenheit von Stolterfohts Vokabular nicht einzubeziehen, ist ein Mangel. Dagegen fragte ich mich jederzeit, inwiefern dem Bauplan der fachsprachen eine Signifikanz zukommt. Was für ein distant reading ist nötig, um dem Ganzen auf die Spur zu kommen? Natürlich kann jederzeit als willkürlich oder zufällig abgetan werden, dass Stolfterfohts fachsprachen organisiert sind, wie sie organisiert sind: gewissermassen eine ästhetische Laune. Aber diese, wenn auch legitime, Sichtweise habe ich jederzeit als zu billig befunden. Also resultiert die Frage, welche Signifikanz dieser Organisation zukommt. Aus dieser (Vogel-)Warte könnte es sich tatsächlich um Setzkästen handeln. Ob die Metapher der Ikea-Möbel stichhaltig ist oder nicht, sei erst einmal dahingestellt. Sicher ist meines Erachtens, dass die Teile bis zu einem gewissen Grad austauschbar sind. Natürlich würde das bedeuten, die fachsprachen weniger als einzelne auszustellen und dafür das Amalgam zu betonen, das Stolterfohts Gedichte ohnehin auch sind.

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    • Zu Stolterfoht: Ich glaube schon, dass für ihn Konzepte, wie innere Notwendigkeit, Stimmigkeit, Ausgewogenheit etc. beim Schreiben keine oder eine negative Rolle spielen, weil es ihm um das Niegesehene, Verrückte und Überraschende geht.

      Insofern kann man sich vielleicht auch zutrauen, in Stolterfoht-Texten hier und da Vertauschungen vorzunehmen, sodass die dabei entstehenden Gebilde auch einem/r versierteren Stolterfoht-LeserIn befriedigend erscheinen. Von dort zum Bild des Setzkastens, scheint es mir aber ein weiter Weg. Die beschriebene Übung würde sicherlich ein Einschwingen auf Stolterfohtsche Sprechweisen voraussetzen, an den Nahtstellen filigrane Anpassungen vornehmen müssen usw. wäre also insgesamt selbst wieder eine kreative Leistung, die erbracht werden müsste. Das Bild vom Setzkasten hingegen legt ja eher nahe, dass man Teile von ungefähr gleicher Größe fast zwanglos austauschen könnte?

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      • (Leider kann man Kommentare von Kommentaren nicht mehr am richtigen Platz absetzen) Wenn man es nur rein äußerlich fasst, ist das Setzkastenbild merkwürdig, weil ein Stolterfoht-Text der geschilderten Art erstens ein sehr anderes Rechteck ergibt (nämlich viel länger) und zweitens zwar offenbar horizontale Teilungen vorhanden sind, aber keine nennbaren vertikalen, wie im Setzkasten. Ich dachte: Dir MUSS etwas mehr vorgeschwebt haben, damit das Bild Sinn ergibt, sonst hättest Du es besser einfach Kasten oder vielleicht Regal genannt, und dieses Mehr wollte ich thematisiert haben.

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