Für die Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit ist heute keine Kardinaltugend. Warum aufmerksam sein, wenn sowieso alles überall und jederzeit verfügbar ist? Und wenn es nicht gefunden wird, beweist das nicht, dass es die Aufmerksamkeit nicht wert war? Ich google mich, also bin ich.

Seit Anfang des Jahres wird die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ auf Betreiben einer anderen Zeitschrift nicht mehr ausgeliefert bzw. produziert. Inzwischen wäre das dritte Heft des Jahrgangs erschienen. Mit Entsetzen las ich damals, wie einige Dichterfreunde über Dinge wie Wettbewerbsrecht schwadronierten. Es interessiert sie einfach nicht, dachte ich, es ist ihnen egal. Man kann ja nicht alles lesen, eine weniger, was solls. Jemand sagte zu mir etwas über die Benachteiligung der Bayrischen Akademie. Sinn und Form ist die Zeitschrift der Berliner Akademie, ursprünglich der Akademie der Künste der DDR. Gegründet von Johannes R. Becher, der seine Genossen kannte und sich ein relativ unabhängiges Organ wünschte. Er bestellte Peter Huchel zum Chefredakteur. Nach Bechers Tod schlugen die Feldwebel der SED bald zu und setzten Huchel ab. Aber die Zeitschrift ging nicht unter. Menschenskind, denkt ihr, man könnte einfach eine Zeitschrift gründen, in München oder Dresden, und sie wird eine international beachtete Institution? Kaputtmachen ist einfacher. Denen sie am A…llerwertesten vorbeigeht, werden sie nicht vermissen.

Ich greife irgendeine Ausgabe aus dem Archiv auf der Suche nach einem Gedicht des Tages und werde auf Anhieb fündig. Im ersten Heft des Jahrgangs 1977 Gedichte von Agostinho Neto (mit einem Beitrag von Jorge Amado über den Autor) und Wilhelm Tkaczyk. Daneben Elias Canetti und Wolfgang Koeppen. Ich bleibe aber an einem anderen Text hängen. Jürgen Rennert schreibt über den 100. Jahrestag des Bukarester Jüdischen Staatstheaters und eröffnet den Beitrag mit einem Gedicht des jiddischen Dichters Israil Bercovici.

Israil Bercovici

(20. Dezember 1921 in Botoșani; gest. 15. Februar 1988 in Bukarest)

Schmerz

Ach, mich brannten schon im Leben 
alle Arten Schmerz und Leid:
Schmerz verwehrter Zweisamkeit, 
Schmerz, zu sehn, wie die von dir 
                  geglaubte und verehrte
Wahrheit sich vor dir ins Gegenteil 
                  verkehrte.
Schmerz, in einer Sprache, die erlosch, zu 
                 sagen und zu meinen
und dem liebsten Menschen dennoch 
                 unverständlich zu erscheinen.
Schmerz, der Wunsch, Gewichtiges zu tun 
für die Welt und lichtre Zeiten 
und doch ganz vernommen sein 
mit dem Wust von Nichtigkeiten.
Alle Arten Schmerz und Leid, 
aber eine übertrifft sie, 
macht mich weinen, rührt ans Wesen: 
ein Gedicht zu schreiben, ohne 
wen zu haben, es zu lesen.

Aus dem Jiddischen von Jürgen Rennert, in: Sinn und Form 1/1977, S. 196. Rennert liefert auch eine phonetische Umschrift des Originaltexts und einen Kommentar.

Wejtik

Ch'hob ojssgewejtikt schojn in lebn 
                    ale wejtikn und wejn:
fin sejn alejn, wen ss'wilt sich sejn in 
                    zwejen,
fin glojbn in an emess mitn gantzn lejb 
                    un lebn
un sen wi er in scheker wert farwandlt 
                    bej dejn lebn.
Fin weln rejdn in a schprach, a 
                    nischt-faranener
und blejbn far dem libsstn mentsch a
                    nischt farschtanener,
fin weln tin epess asojnss zu brengen
far der welt a lug a lichtikn 
un misn sein fartun gur 
mit an injon a nischt wichtikn.
Nor gresser fin di wejtikn di ale
                    is di wejtik,
wuss imschtand is mich zi machn wejnen, 
fin onschreibn a lid 
un ess nischt hobn wemen forzilejenen.*

Ebd. S. 206f.

*) forzilejenen: vorzulesen

Aus Rennerts Beitrag:

Aufmerksamkeit tut not und lohnt sich für beide Seiten, die aufeinander mehr angewiesen sind, als es abgetragene oder unabtragbar erscheinende Hypotheken vermuten lassen. Wenn in Bukarest, Warschau, Vilnius, Tschernowzy, Birobidshan heute noch in Jiddisch Theater gespielt wird, sollten wir es von hier aus nicht mit einer traditionspllegenden Touristenattraktion verwechseln.

Denn jene Theater spielen für ein lebendes, oft genug das Schlimmste überlebt habendes, jedoch nicht überlebtes Publikum. Salomo Birnbaum formulierte in seiner Studie «Die jiddische Sprache», was unter dem Aspekt jeder scheinbar zum Untergang verurteilten Sprache und Kultur größte Beachtung verdient: «Selbst wenn Jiddisch nur noch zwei oder drei Generationen zu leben hätte, so wäre das kein Grund, es weniger zu pflegen als wenn es hundert Generationen vor sich hätte, denn die Einzelmenschen der wenigen Generationen haben die gleichen Rechte wie die der vielen Generationen. Man vernachlässigt ein Gerät nicht, weil es in absehbarer Zeit ja doch gebrauchsunfähig sein wird.»

Vielleicht erklärt das bisher Gesagte, was mich an dem eingangs zitierten, von mir im Bemühen um größte inhaltliche Genauigkeit nachgedichteten Text Israil Bercovicis reizt und berührt. Und ich denke, es ist Zeit, der Nachdichtung eine – wenn auch unzulängliche – phonetische Umschrift des Originals nachzuschicken. Möge sie ahnen lassen, was das Jiddische vermag. Ihr kritischer Vergleich mit der Nachdichtung macht möglicherweise sichtbar, daß eine wortwörtliche Übertragung der kürzeste Weg gewesen wäre, um am Wesen der Sache, der Sprache, des Textes vorbeizureden und vorbeizuhören.

Israil Bercovici (1921-1988), jiddischer Dichter, Dramatiker und Kulturhistoriker. Langjähriger Chefdramaturg des Bukarester Jüdischen Staatstheaters. Mehrere Gedichtbände. 1976 „Hundert Jor jidisch Teater in Rumenie“. Starb vor Vollendung seines Hauptwerks – einer Universalgeschichte des Jiddischen Theaters.

1 Comments on “Für die Aufmerksamkeit

  1. Danke für dieses Gedicht! Wie schön und bewegend! Und wie sehr wünschte ich mir, ich hätte besser aufgepasst, als ich meine erste und einzige Erfahrung mit dem Jiddischen machte. Es war im Jahr 1977, als ich meinen kanadischen Freund zu einem Arzt in Tell Aviv begleitete. Warum ich beauftragt wurde, ihn zu begleiten, wurde klar, als wir den alten Arzt trafen: er sprach nur Jiddisch. Offenbar dachte die Kibbuz-Krankenschwester, dass ein Holländer die Dolmetscher-Arbeit erledigen könnte. Sie hatte Recht. Ich erinnere mich noch gut an dieses Gespräch, in dem ich die Beschwerden meines Freundes schilderte, die Diagnose des Arztes hörte und wie die Medizin anzuwenden sei. Die Sprache muss auf jeden Fall lebendig gehalten werden!

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