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Veröffentlicht am 10. Dezember 2021 von lyrikzeitung
Gertrud Kolmar
(* 10. Dezember 1894 in Berlin; † vermutlich Anfang März 1943 in Auschwitz)
Anno Domini 1933 Er hielt an einer Straßenecke. Bald wuchs um ihn die Menschenhecke. Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht. Ein großes östliches Gesicht, Doch schwer und wie erschöpft von Leid. Ein härenes verschollnes Kleid. Er sprach und rührte mit der Hand Ein Kind, das arm und frostig stand: »Ihr macht es krank, ihr schafft es blaß; Wie Aussatz schmückt es euer Haß, Ihr lehrt es stammeln euren Fluch, Ihr schnürt sein Haupt ins Fahnentuch, Zerfreßt sein Herz mit eurer Pest, Daß es den kleinen Himmel läßt —« Da griff ins Wort die nackte Faust: »Schluck' selbst den Unflat, den du braust! Du putzt dich auf als Jesus Christ Und bist ein Jud und Kommunist. Die krumme Nase, Levi, Saul, Hier, nimm den Blutzins und halt's Maul!« Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb. Die Leute zogen mit. Er blieb. Gen Abend trat im Krankenhaus Der Arzt ans Bett. Es war schon aus. – Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz Im fernen Staub des Morgenlands. Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich Im dritten, christlich-deutschen Reich.
Aus: Gertrud Kolmar, Das lyrische Werk. Gedichte 1927-1937. Hrsg. Regina Nörtemann. Göttingen: Wallstein, 2003, S. 369f
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Gertrud Kolmar
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