Kritik der Kritik

Vermutlich soll man froh sein, daß Gegenwartslyrik, junge zumal, überhaupt besprochen wird. Vielleicht soll man nicht an den zarten Pflänzchen der Kritik herumzupfen. Ich lobe an Kurt Drawert, daß er sich für junge Autoren einsetzt. Schließlich, selbst eine schlechte Kritik ist besser als gar keine.
Ist das eine schlechte Kritik?

Kurt Drawerts zu Recht lobende Kritik zu Gedichten Paul-Henri Campbells erschien in der Dresdner Literaturzeitschrift Ostragehege und wurde jetzt bei Faustkultur digital zugänglich gemacht. Wenn ich die vermutlich redaktionelle Moderation beiseitelasse, löst der erste Absatz überwiegend Zustimmung bei mir aus:

Wer länger in Amerika war, versteht sicher besser, warum die amerikanische Lyrik narrativer ist, stofflich oft ausschwingender als die europäische und vor allem die deutsche. Damit verbunden sind keine Qualitätskriterien, sondern andere poetische Dispositionen, die anderen Systemen von Wahrnehmung folgen. Schon in den 1960er Jahren hat es in Deutschland die Gespräche über das kurze und das lange Gedicht gegeben, wie sie etwa Karl Krolow mit Walter Höllerer führte, und auch in der zeitgenössischen Lyrik herrscht alles andere als Tendenzgleichheit vor. Die Lakonie, ihre enorme Komprimierung und Assoziationsfähigkeit, ist dabei eine Möglichkeit, Sprache lyrisch zu verwenden. Der Langvers, der die Vorgänge des Gedichtes in eine tiefere Bewegung führt und seine Nähe zur Prosa immer wieder auflösen muss, ist eine andere. Paul-Henri Campbell, ein junger deutsch-amerikanischer Lyriker, der, nach einem Studium in klassischer Philologie und katholischer Theologie, heute in Frankfurt am Main lebt, beherrscht beide Tonlagen. Vor allem aber das Langgedicht, das sich über Motivketten und einem seriellen Ordnungssystem aus sich selbst heraus entfaltet, ist seine Stärke. (…) Entscheidend aber ist das ästhetische Ding, das Gedicht, ob es oder ob es nicht gelungen ist. Und Campbell, der leider noch zu wenig bekannt ist, schreibt geradezu atemberaubende, in ihrem Rhythmus, ihrem Sound, ihrer Bildlichkeit unverwechselbar eigene, soll heißen: dem Leben „abgerungene“ Gedichte.

Die Aussage zum narrativeren und oft ausschwingenden Charakter (eines Teils) der amerikanischen Lyrik ist mir vertraut. Allenfalls das Wörtchen „sicher“ im ersten Satz irritiert etwas: was ist schon sicher. Allem, was man sagen kann, wird widersprochen werden. Ich war nicht lang genug in den USA und nur als Tourist, über die amerikanische Lyrik gelesen und nachgedacht hab ich großteils zu Hause. Ich sehe ähnliche Frontstellungen im Lyrikdiskurs wie hierzulande, so zwischen „akademischer“ und „verständlicher“ Lyrik, nur in weiterem Rahmen. Öfter als bei uns scheinen mir dort die sprachorientierten („sprachverliebten“ sagt man merkwürdigerweise, wenn man es kritisieren will, als wäre Verliebtsein peinlich) Dichter auch zum langen, narrativeren, ausgreifenden Gedicht zu tendieren, während wir uns vorwiegend im kurzen Gedicht austoben und die Unterscheidung vielleicht eher darin besteht, wieviel humoriges, „niederes“ Sprachmaterial zugelassen wird. Wenn ich es an Preiszuerkennungen messe, z.B. beim Huchelpreis, so scheinen dort starke Einzelgedichte Vorrang vor großen Entwürfen zu haben. Im Jahr, als Marion Poschmanns „Geistersehen“ ausgewählt wurde, gab es mit Paulus Böhmers „Am Meer. An Land. Bei mir“ und Ann Cottens „Floridaräume“ starke Konkurrenz von der ausgreifenderen Art. Für 2015 gab es einen starken Bewerber und eine Bewerberin: Sabine Scho und Andreas Töpfer: The Origin of Senses.  Ein langes Gedicht, das „Lyrik“ mit Kunst, Wissenschaft und Kommentar vermischt, unreine Poesie. Spielte es eine Rolle? Wäre es in Frage gekommen? Ausnahmen bestätigen die Regel, Ulf Stolterfohts „Holzrauch über Heslach“ fällt mir ein. Böhmer wurde zwei Jahre später doch noch bedacht, aber z.B. Oswald Egger kam „nur“ mit einem kleineren Nebenwerk quasi zum Zuge.

Also da bin ich ganz bei Drawert. Bin ich? Unversehens nämlich stürzt dieser erste Absatz dann komplett ab mit dem letzten Teilsatz „unverwechselbar eigene, soll heißen: dem Leben ‚abgerungene‘ Gedichte.“ Scho, Cotten, Böhmer: raus seid ihr! Er will blutvolle, dem wahren Leben abgerungene, reine Poesie, nicht so intellektuelles Zeug. Ich sehe den Dichter mit „dem Leben“ ringend. Aber ist es sein eignes? Fremdes? Oder „das Leben“ schlechthin? Kommt man dabei ins Schwitzen? Drawerts Satz impliziert einen Gegensatz von „blutvollem“ Leben und „blutleerer“ Kunstfertigkeit als der „wahren“ Kunst Fremdem. (Thomas Kling hilf!)

Überwiegend prekär wird Drawerts Argumentation im Folgenden. Ich kommentiere es mal punktuell.

Es sind Körpertexte, Schnittstellen zwischen innerer und äußerer Welt, die sich, einem Möbiusband gleich, notorisch ineinander verschieben und ihre Perspektiven, ihre Orte des Anschauens, wechseln.

Was „Körpertexte“ sind, was daran Körpertext ist, wird nicht ausgeführt, die Teilsätze dieses Satzes schieben sich gleichsam „einem Möbiusband gleich, notorisch ineinander“. Körpertexte, Möbiusband, klingt (post)modern, aber wieso „Schnittstellen“ (Chirurgie?). Es geht [ich spreche von Drawerts Satz, nicht von Campbells Gedicht) gar nicht um Schnitte, sondern um Vermittlung. Es ist Dialektik (bald wird das Wort auftauchen), aber es ist keine schneidende Dialektik, keine hart im Raume stoßende Materie – es ist jene eigenartig vermittelnde „Dialektik“, wie sie im DDR-Sprachgebrauch bis in die Umgangssprache gedrungen war. „Das mußt du dialektisch sehen“ hieß da: nimm die Schärfe raus, frag nicht so dumm nachbohrend, alles iiiiiiiiiist wie es iiiiiiiiiist. Damit nahm man jeder schüchternen oder forschen Frage den Schneid, was IST, IST, weil es IST… Die Perspektive wird eben nicht gewechselt, wie das Möbiusband suggerieren will. Schnittstellen zwischen innerer und äußerer Welt, das ist der älteste Hut der sozialistischen Ästhetik und des irgendwie hegelianischen idealistischen deutschen 19. Jahrhunderts.

Weiter im Text:

Das Subjekt im Gedicht wird so zu einem Allgemeinen, wie das Allgemeine im Subjekt erscheint.

Idealistischer Budenzauber, „erscheint“. 50er Jahre:

„Lyrik (…) unmittelbare Gestaltung innerseelischer Vorgänge im Dichter, die durch gemüthafte Weltbegegnung (…) entstehen, in der Sprachwerdung aus dem Einzelfall ins Allgemeingültige, Symbolische erhoben werden …) (Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur – West -, 1955). – „literar. Hauptgattung, in der die subjektive Aussage bzw. die auf das Subjekt bezogene Widerspiegelung der Wirklichkeit ihren allgemeinsten Ausdruck findet.“ (DDR-Lexikon)

Im weiteren spricht er von „Form“ und „Stoff“, geht kurz auf Campbell ein, um dann in die große „positive“ Zwischenbilanz zu münden:

Das jedoch mündet nie in absoluter Negation oder einer Lust an der Zerstörung dessen, das über zerstörerische Kräfte verfügt. Im Gegenteil, es ist reines dialektisches Denken und nimmt poetisch auf, was die Erfolgsgeschichte in sich selbst nicht mehr spiegelt.

Es ist kein „unreines“, negatives dialektisches Denken, sondern „reines dialektisches Denken“, das heißt bei ihm nicht „absolut negierend“, sondern eben vermittelnd. Damit ist er bei seinem Thema:

– „die verschleppte rache / der schlachten, die im wechselspiel kalter schultern / verschlungene wege der schuld vergelten. // diese seltsame periode, darin in jeder aggression/ eine notwehr trauert, hilflos vor angst (…).“ Das ist im expressiven O-Menschheits-Ton vielleicht nicht ganz so modern, wenn man die oft sprachverspielten und in sich selbst versunkenen Poetiken anderer Autorinnen und Autoren seiner Generation dagegenhält, die sich manchmal an Harmlosigkeit noch überbieten. Aber es ist, in eben dieser Unterscheidung, überhaupt ein Ton, eine Stimme, eine Haltung.

Es gibt Kritiken, da verreißt Rezensent die Konkurrenten, damit sein zu lobender Gegenstand desto heller strahle. Bei Drawert kommt es mir anders herum vor. Der lobt Campbell – zu Recht. Ich sage nicht, daß er es nicht meint. Ich sage, er benutzt die Gelegenheit, um seine Position im Lyrikkampf zu bekräftigen. Campbell ist ihm zu einem Rundumschlag gut.

Im folgenden Absatz spricht Drawert von sich selber:

Es mag an meinem Alter liegen, dass ich wie das Huhn über dem Kochtopf hängend die digitale Welt mehr erleide als verstehe und deren Reflexe in der Literatur eben darum auch nicht oder eben nur schlecht lesen kann.

Aha; bis hierhin war nur von – analogen – poetischen Positionen die Rede, Campbell versus „andere Autorinnen und Autoren seiner Generation“, die er für „sprachverspielt“, „in sich selbst versunken“ und harmlos hält. Offensichtlich sind das „Reflexe“ der digitalen Welt, wie nur? „Digitale Welt“ ist für ihn eine Metapher für alles, was ihn an der Gegenwartslyrik stört. Um die geht es im Folgenden wieder. Ein Satz noch zur Betrachtung:

Aber es erschreckt mich zutiefst, wenn das sowieso schon bis zur Auslöschung zerstreute Subjekt auch von denen aufgegeben wird, die es zu bewahren und sprachlich neu zu organisieren hätten – den Schriftstellern nämlich, und im besonderen den Dichtern.

Das ist interessant. Aufgabe der Dichter wäre es, die Risse im Weltbau zu kitten und das „sowieso schon“ bedrohte „Subjekt … zu bewahren und sprachlich neu zu organisieren“? Starker Tobak. Wenigstens im Gedicht möge die Welt heil sein. Das Subjekt ganz sein.

Es war, beiläufig, Sigmund Freud vor über hundert Jahren, der der kosmologischen Kränkung – daß die Erde nicht mehr im Mittelpunkt des Weltalls stand – und der biologischen Kränkung durch Darwin – daß der Mensch nicht mehr das Zentralgestirn des Lebens und Krone der Schöpfung, sondern Ergebnis der Evolution war – die psychologische Kränkung hinzufügte: daß der Mensch auch nicht mehr Herr im eigenen Ich war. Dichter, antreten zur Wunderheilung! kann man da nur sagen. Man braucht nicht mehr den folgenden Satz, in dem er direkt seine Position „kürzlich“ gegenüber anderen jüngeren Autoren rechtfertigt. Das hat Campbell nicht verdient.

Nachsatz: Aber ab der Stelle, wo Drawert sagt, hier frage er nicht weiter, sondern zitiere, kann ich ihm wieder uneingeschränkt zustimmen, der Schluß lautet:

„wie axthieb wie hindurch wie brustbein/ wie ein kalter nasser schmerz wie krass/ wie im erwachen wie ohne wie mit naht/ der nacht (…)/ und auskehrend wieder o atem/ und er geht fort (…)/ jener/ komplize des skalpells der offen sah dich/ dir ins herz“. Würde er die Verse laut lesen, könnten wir seinem hastigen Gestus folgen, seiner Geschwindigkeit, mit der er denkt, lebt und handelt. Es ist, als hätte einer niemals Zeit, auch wenn er Zeit hat. In diesem Zyklus nämlich geht es um Leben und Tod, denn Paul-Henri Campbell muss mit einer schweren Herzkrankheit leben, und er lebt so immer auch in einem Bewusstsein von der Endlichkeit. Und wie die Kerze, die an beiden Seiten brennt, beschleunigt sie auch seine Zeit, seine Dichtung, seine kluge, hellwache Art, die Welt sich verständlich zu denken.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..