Digest 11.-12.6.

Richard Pietraß 70

Jan Wagner gratuliert:

Bei aller Sinnlichkeit, die Pietraß’ Gedichte zu geradezu greifbaren Erscheinungen macht, sie duften und klingen läßt, bei aller Lebenslust, die sich sogleich auf den Leser überträgt, läßt sich der Basso continuo der Melancholie und eines großen Ernstes kaum überhören, auch nicht in einem Gedicht wie „Die Gewichte“, das einem der in wechselnden Verlagen publizierten Auswahlbände des Pietraßschen Werkes den Titel gab: „Die Muttermilch und das Vatererbe. / Mein Hunger nach Leben und das Wissen zu sterben. / Der Gang zum Weib, der Hang zum Wort. / Der Keim der Reinheit und wie er langsam verdorrt. / Das Strohfeuer und der glimmende Docht. / Aufruhr, der auf Gesetze pocht. / Die heillose Fahne im bleiernen Rauch. / Galle, verschluckt im Schlemmerbauch. / Die Statuten des exemplarischen Falls. / Mein niemals vollgekriegter Hals. / Der säuernde Rahm, der flüchtige Ruhm. / Die Grube und die Gnade postum.“ / Tagesspiegel 11.6.

Vier Dimensionen

Über einen neuen Sammelband von Jacques Roubaud schreibt Françoise Siri, La Croix 9.6.:

Seine Ausbildung als Mathematiker stellt er ganz in den Dienst des poetischen Schaffens mittels gelehrter Formenanalyse. Deshalb lud ihn Raymond Queneau 1966 in die Gruppe Oulipo ein. Im Band findet man extrem unterschiedliche Formen (vom Kalligramm bis zur Sestine) und Interessenssphären. Diese Vielfalt entspringt seiner poetischen Konzeption:

„Ein Gedicht ist ein sprachliches Kunstwerk in vier Dimensionen: für die Seite (also das Auge), für das Ohr (das was wir hören), für die Stimme (das was wir sprechen) und für eine innere Vision.“

Je suis un crabe ponctuel Anthologie personnelle 1967-2014, Jacques Roubaud, Gallimard, 192 p., 6,20 euros.

Versschmuggel

Beim „Versschmmuggel“ arbeiten fremdsprachige mit deutschen Dichtern gemeinsam an ihren Texten und übersetzen sie gegenseitig. Ziel ist es, so nahe wie möglich an dem Originaltext zu bleiben, aber auch die Poesie in dem jeweils anderen Land bekannt zu machen. Etwa ein Jahr haben nun Lyriker aus Indien, Pakistan, Sri Lanka und Bangladesh mit Dichtern aus Deutschland zusammengearbeitet und ihre Texte in 20 verschiedene Sprachen übertragen. (…) Die Übersetzungsarbeit erfolgt dabei in zwei Schritten: Zunächst werden die Texte von einem Übersetzer Wort für Wort, also rein inhaltlich übertragen, damit zumindest ein Grundverständnis des Textes vorhanden ist. Erst danach beginnt die eigentliche Arbeit der Dichterpaare. Mit der Hilfe eines professionellen Dolmetschers besprechen sie ihre Texte und übertragen sie somit Element für Element in die jeweils eigene Muttersprache. Im Laufe der letzten 15 Jahre konnte somit Lyrik aus 20 Sprachen – unter anderem Chinesisch, Hebräisch und Koreanisch – relativ originalgetreu übersetzt werden.

(…) „Die südasiatischen Sprachen sind in der Hinsicht sehr besonders, da manche Sprachen hier in Deutschland vollkommen unbekannt sind und ohne unsere Vorgehensweise gar keine gute Übersetzung möglich wäre“, so Wohlfahrt, der auch das Poesiefestival Berlin leitet. So verfasst Mamta Sagar aus der indischen Stadt Bangalore ihre Werke beispielsweise in Kannada, einer Sprache, die vornehmlich in Südindien gesprochen wird. Ihre Texte wurden von der Deutsch-Ungarin Orsolya Kalász in die deutsche Sprache „geschmuggelt“, während Sagar Kalász’ Dichtung in Kannada aufgeschrieben hat. Beide Lyrikerinnen stellen ihre Arbeiten heute vor. Außerdem wird Sajjad Sharif aus Dhaka in Bangladesch gemeinsam mit Dichterpartner Hendrik Jackson bengalische sowie deutsche Werke präsentieren. Weder Sagars noch Sharifs Gedichte wurden vorher in die deutsche Sprache übertragen und sind somit im doppelten Sinne „unerhörte Texte“, wie Wohlfahrt sagt. / Sarah Kugler, Potsdamer Neueste Nachrichten

Mehr: Deutsche Welle

Bohumil Hrabals frühe Gedichte auf Deutsch und Tschechisch

„Man kann in dem Gedichtband auch Hrabals Entwicklung gut verfolgen. Begonnen hat er mit sehr schwärmerischen, hoch sensiblen Gedichten, im Geist des Poetismus verspielt, mit sehr schönen Bildern, die er mit seiner hohen Sensitivität sehr ausgeprägt wahrgenommen hat. Das sind zu Beginn teilweise sehr melodische, sehr schöne Gedichte. Dann kam die schwierige Zeit des Protektorats, des Zweiten Weltkriegs, und da hat sich schon die Zukunft danach abgezeichnet, und auch der geschichtliche Hintergrund klingt in den Gedichten an. Ganz am Ende hat Hrabal noch einen Zyklus reingekommen, der schon 1946 entstanden. Da ist schon der spätere Hrabal enthalten, der sich jetzt für das großstädtische Milieu, das Arbeitermilieu interessiert, der das Gefühl der sozialen Verantwortung entwickelt hat.“ /Martina Schneibergová, Radio Prag

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