Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Bei lyrikkritik.de ein langer, kluger, gelehrter & zorniger Essay von Frank Milautzcki über Lacan und einen Darmstädter Juror. Ich zitiere hier den zornigen Rahmen:
Canal Lacan
„Lacan“ gehört zu den Autoren, die von anderen gerne zitiert werden, wenn es um poetologische Diskurse geht. Man zitiert prestigeträchtig ein paar Bruchstücke und signalisiert damit, man habe sich bis in diese vertrackte Rätselwelt der lacanschen Psychologie vorgewagt und sei up to date. Komm mir nicht postmodern, ich kenn mich aus.
Ich nenn das mal „lacanisieren“ – Canal Lacan.
So hat unlängst ein Jurymitglied eines literarischen Wettbewerbs (Kurt Drawert beim Literarischen März in Darmstadt) angehoben, Gedichte, die auf stark sprachspielerische Weise ihre Inhalte fixierten, mit der lacanschen „leeren Rede“ zu charakterisieren, und damit seine ablehnende Haltung den unkonventionell aufgesetzten Texten gegenüber begründet. Im Originalton:
„Bei Lacan heißt es: das Leere … äh … die leere Rede …, das heißt, es gibt nur noch Signifikantenketten, die sich zu keinem Signifikat mehr bilden lassen …“
Übersetzt heißt das: tut mir leid, deine Texte sind sinnloses Geschwafel. Sie ergeben keinen Sinn.Nun, das ist recht starker Tobak, vor allem wenn er öffentlich kredenzt wird. Es ist ein Signal.
Ich saß im Publikum und fand den Vorwurf nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern eines Jurors nicht würdig und darüberhinaus schlicht falsch: Sprachspiel und moderne Poesieverfahren erzeugen ganz bewußt Verse (Signifikantenketten), die a) für andere Signifikate stehen, als mancher sie kennt oder für möglich hält und b) signifikant sind für ein Signifikat, das man gerade der „Jugend“ (und um einen Nachwuchspreis soll es sich beim Literarischen März ja handeln) zuschreibt: der Ablehnung der Tradition und der traditionellen Signifikate und Signifikanten. Und offensichtlich war das Jurymitglied in so hohem Maße Traditionalist, daß er das nicht sehen konnte.(…)
Vielleicht noch eine Schlußbemerkung zur „leeren Rede“, die der Juror der Lyrik des Bewerbers attestierte. Es kann sich dabei nicht um die „leere Rede“ handeln, wie sie Lacan versteht, denn dieser unterscheidet zwischen einem ersten Sprechen, der vollen Rede, die sich im Unbewußten formuliert, und einem zweiten Sprechen, der leeren Rede, die sich im Bewußten ausdrückt. Auch hier macht Lacan den Lesern das Verständnis nicht leicht und regelmäßig fällt die dahinterstehende Idee dem intuitiven Alltagsverständnis zum Opfer. So auch beim Juror, der lieber versteht, was zu verstehen sich ihm als normal anbietet (was bei Lacan stets zu Mißverständnissen führt, denn der ist als Begriffskassierer und Uminterpretierer unterwegs, nicht als Aufklärer). Die leere Rede, wie Lacan sie versteht, ist keinesfalls sinnlos, aber sie ist, weil sie nicht aus dem Unbewußten stammt, ohne Kontakt zum Signifikat (was ich persönlich nicht unterschreiben würde, denn es gibt mit Sicherheit einen Grund – ein Signifikat – für jede Rede, der nicht im Text zu suchen ist, und sei es Eitelkeit, Kompetenzbeweis oder das Bestreben mit leerer Rede jemanden zu deklassieren).
Dem Juror jedenfalls gelang es, gleich zwei ihm wohl vertraute DichterInnen, die in den zwei Jahren zuvor in seiner Schreibwerkstatt „reiften“, aufs Dreier-Treppchen zu verhelfen – was kurz darauf auch in darmstädtischen online-Meldungen ausdrücklich gewürdigt wurde und als bemerkenswerte Neuigkeit auch auf der website des Jurors zu lesen war. Ein Zeichen war gesetzt. Die Finanzierung der eigenen Schreibwerkstatt dürfte aufgrund der offensichtlichen Erfolge darob gesichert sein.
Das Wort „banal“ verhindert dann vielleicht doch, dass daraus ein großartiger Anfang wird. Es ist ja keine Schande, etwas nicht zu verstehen, aber warum das gleich mit einer Abwertung verbinden? So eine „Der Kaiser ist ja nackt!“-Attitüde finde ich nicht weniger ärgerlich als ausgestelltes Expertentum.
LikeLike
andererseits, würde jemand sagen “Becketts Literatur ist eigentlich ganz banal. Er schreibt die ganze Zeit davon, dass man nicht schreiben kann, aber dann schreibt er doch wieder was.” – wäre das nicht ein großartiger anfang, von was auch immer: verstehen, beschäftigung, genießen… – und allemal besser als von „leerer rede“ dazu raunen oder vielleicht auch als das gegenteil, wenn einer sagte: ich verstehe beckett (richtig), du nicht!
LikeLike
verstehen wollen, sich tatsächlich beschäftigen – unbedingt d’accord!
LikeLike
(Ich wechsle wieder in den Hauptthread, der besseren Lesbarkeit wegen:)
Ich bin auch einverstanden – mit dem, was Sie über das „Lacanisieren“ schreiben. Ja, Lacan ist einer dieser Namen, mit denen man sich in gewissen Kreisen gerne schmückt, und nicht immer fußt das auf einer näheren Beschäftigung mit ihm. Aber dafür kann ja Lacan nichts.
„Das Unbewusste“ ist in der Tat schon als Begriff höchst problematisch, denn was genau bezeichnet es eigentlich? Die zwingende Verfehlung, die an dieser Stelle deutlich wird, versucht Lacan performativ darzustellen, daher ist seine „Theorie“ im strengen Sinne gar keine, sondern der Versuch, durch ein immer wieder neues Ansetzen dem hinterher zu jagen, was sich nie einholen lässt. Aber es geht eben auch nicht ohne diesen Versuch.
Vielleicht ist an dieser Stelle der Verweis auf Beckett hilfreich. Dem könnte man, mit derselben Argumentationsfigur, die Sie bei Lacan vorführen, folgendes vorwerfen: „Becketts Literatur ist eigentlich ganz banal. Er schreibt die ganze Zeit davon, dass man nicht schreiben kann, aber dann schreibt er doch wieder was.“
Ich hoffe, wir sind uns einig, dass in diesem Fall schneller deutlich wird, dass dieser Sicht der Dinge doch einiges entgeht.
LikeLike
Mit Beckett kann ich leider nicht dienen, den habe ich nicht parat und kann deshalb nicht nachvollziehen, worauf wir uns einigen würden. Meine Sicht auf die Dinge ist im Übrigen vereinfachend, weil ich versuche zu verstehen, um was es geht und aus meiner Erfahrung weiß ich, daß das oft hilfreich ist, aber nach dem was Sie schildern, wußte das Lacan wohl selbst nicht so genau und springt auch sehr zwischen Ideen und Begriffen, macht Anleihen hier und dort, selbst bei Knoten und Stichen wird er fündig – ich habe mir es gespart, diese Dinge detailliert verstehen zu wollen (z.B. sein Sinthom Seminar), weil ich am Ende vielleicht Lacans theoretische Denke verstanden hätte, aber – das ist mein Grundgefühl – nichts von dem, was im Menschen wirklich passiert.
Ich muß mich jetzt ausklinken, Kopfweh bahnt sich an.
Herzlichen Dank für den Austausch.
LikeLike
Danke ebenfalls!
Und auch meinen Respekt, dass Sie hier zur Kritik Stellung nehmen!
LikeLike
Ok, dann also ein Argument: Milautzcki geht in seinem Beitrag von der unausgesprochenen Prämisse aus, über das Unbewusste ließe sich auf dieselbe objektivierende Weise sprechen wie über ein x-beliebiges Phänomen der Physik im Makrokosmos. Auf die Idee, dass es anders sein könnte, kommt er nicht. Was allein nicht weiter tragisch wäre, auch Freud hat in den Grundannahmen seiner Arbeit physikalische Denkweisen auf psychische Prozesse übertragen. Genau dort setzt aber Lacan an, der am eindrücklichsten darauf hingewiesen hat, dass das Unbewusste kein Gegenstand unter anderen ist, wenn es darum geht, wie der Mensch sich ihm in der Erkenntnis nähern kann. Alles, was an Lacan verschwurbelt erscheinen mag, ist dem Versuch geschuldet, diese Einsicht ernst zu nehmen. Das wiederum kann man verstehen, wenn man sich mit seiner Theorie beschäftigt – nur Milautzcki versteht das nicht und schließt aus seinem Nichtverstehen auf eine vermeintliche Banalität bei Lacan. Unfreiwillig komisch wird es dann, wenn Milautzcki auf die Signatur zu sprechen kommt: Da wird aus seinem eigenen Nichtverstehen ein Manko der Lacanschen Theorie, und er übersieht völlig, dass sein Verbesserungsvorschlag dann doch noch irgendwie etwas von dem widerspiegelt, was Lacan geleistet hat.
LikeGefällt 1 Person
Woraus schließen Sie diese unausgesprochene Prämisse?
LikeLike
Kurze Antwort: aus der ganzen Anlage des Textes.
Etwas ausführlicher:
„Eigentlich kann man Lacans Denken dahingehend zusammenfassen…“
„Nirgends finde ich die Tendenz zur Klarstellung…“
„Der signifikante Grundgedanke seines Theoriengebäudes ist eine simple Weisheit…“
„Insofern könnte man dem Lacanschen Universum eine recht einfache Basisdenke abgewinnen…“
Das sind Sätze, die jemand schreibt, der davon ausgeht, dass sich das Feld, mit dem sich Lacan befasst, grundsätzlich auf dieselbe Weise behandeln lässt wie jedes andere Feld auch. Allein die Formulierung „einfache Basisdenke“ – warum sollte sich ein Sprechen über das Unbewusste (und bei Lacan ist es nun mal in erster Linie ein Sprechen, kein Schreiben und auch kein Denken) auf so etwas reduzieren lassen? Den Wunsch nach Komprimierung, Klärung, Griffigkeit tragen Sie an Lacan heran, aber es bleibt doch Ihr Wunsch.
LikeLike
Einverstanden.
Ich versuche zu verstehen, um was es „bei Lacan“ geht, einerseits bei ihm selbst und andererseits aber auch, wenn er von Autoren zitiert und „gebraucht“ wird (beim „lacanisieren“). Da scheint es große Verständnislücken oder -schwierigkeiten zu geben. Insofern haben Sie recht: ich glaube schon, daß man Dinge, die man verstehen will, auch so formulieren kann, daß man sie verstehen kann. Und man Lacan gerne benutzt, um ein Pfauenrad zu schlagen.
Könnte es sein, das der Begriff „Das Unbewußte“ – wenn man ihn als Stellvertreter nutzt, für etwas, was man ja prinzipiell gar nicht kennt – automatisch zu problematischem Verstehen führt, weil er prinzipiell Dinge enthält, die jeder selbst hineinpacken kann?
LikeLike
nein, mein lieber, hier werden wir nicht einig. ich spreche von deinem auftritt hier, der völlig argumentfrei bloß auf überlegenes expertenwissen pocht, das, da es nicht eingesetzt wird, bloß behauptet wird. so als lohne es nicht die mühe, auf die argumente der gegenseite einzugehen. was ich schade finde.
culler übrigens weiß, daß es in diesem streit keinen sieger gibt. „theorie ist verbunden mit dem wunsch nach beherrschung. … aber theorie macht beherrschung unmöglich, nicht nur deshalb, weil es stets noch mehr zu wissen gibt, sondern auch, weil, konkreter und schmerzhafter, die theorie selbst ihre vermeintlichen ergebnisse und deren prämissen in frage stellt. es ist das wesen der theorie, durch eine befragung von prämissen und postulaten genau das zu zerstören, von dem man geglaubt hat, es zu wissen…“ schade, daß es solche debatten anscheinend nicht gibt, schade daß wir dazu verdammt sind recht haben zu sollen.
LikeGefällt 4 Personen
eben
LikeLike
„Theorie ist also auch eine Quelle der Einschüchterung, ein unerschöpfliches Reservoir, jemandem beständig die Schau zu stehlen: ‚Was? Sie haben Lacan nicht gelesen! Wie können Sie über Lyrik sprechen, ohne auf die Herausbildung des Sprechersubjekts im Spiegelstadium einzugehen?‘ “
Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine sehr kurze Einführung
LikeLike
na drawert benutzt den begriff „leere rede“ polemisch und an einer stelle, wo er den bezug zu lacans theorie vollkommen verliert, das wort leer nur noch als polemischer vorwurf funktioniert. (wenn man überhaupt von einer einheitlichen theorie sprechen kann). soweit so peinlich. und milautzki nimmt das genau so auf, da kann ich dann aber auf lacan und den strukturalismus verzichten in der argumentation, oder? und: das alles hat nix mit den darmstädter gedichten zu tun. zwei sich spreizende männer zeigen ihre geliehenen federn.
LikeLike
oh wow, jan hat gesprochen (aber über den satz „im grunde macht milautzki hier das, was er drawert vorwirft.“ solltest du noch mal nachdenken.echt)
LikeLike
das mit dem signifikat und mit dem signifikanten bei lacan und bei de saussure sollte der autor des artikels noch einmal nachlesen. und die, die ihm beifall klatschen auch. ich vermute, er stützt sich bei seinen ausführungen auf die recherche bei wikipedia oder anderen lexikonartikeln. dabei verkürzt er sie strukturaalistischen positionen nicht nur, sondern stellt sie, bewusst oder unbewusst, auch falsch dar. die phalluspassage im text schlägt dem fass den boden aus. im grunde macht milautzki hier das, was er drawert vorwirft. ach und über den begriff sprachspiel sollte er sich auch noch mal informieren.
LikeLike