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Rivka Basman ist die bedeutendste lebende Dichterin ihrer Muttersprache. Dass ihr neunzigster Geburtstag vorige Woche in Deutschland unbemerkt blieb, ist trotzdem keine Überraschung. Immerhin haben die Nationalsozialisten alles dafür getan, Rivka Basmans Muttersprache, das Jiddische, zusammen mit den Sprechern auszurotten.
Während ihr Vater und ihr achtjähriger Bruder Arele von den Deutschen im Baltikum ermordet wurden, hat Rivka Basman erst den Horror des Gettos von Wilna überlebt, später auch noch das KZ Kaiserwald. Dort wurde sie zur Dichterin, indem sie jeden Abend für die anderen Gefangenen zum Trost ein jiddisches „lid“ rezitierte. Während das Lager geräumt wurde, schmuggelte sie die Papierrolle mit ihren ersten Werken unter der Zunge durch die Kontrolle. Sie hält diese Gedichte heute für wenig gelungen, doch hat sie das Manuskript der Schoah-Gedenkstätte in Yad Vashem vermacht.
Ist es nach alldem ein Wunder, wenn Rivka Basman ihre innere Welt immer noch in ihrer „mameloshn“, in der jiddischen Muttersprache aus dem Shtetl von Wilkomir, ausdrückt? Zwar lebt sie nun seit fast siebzig Jahren in Israel, hat im Unabhängigkeitskrieg ihren Kibbutz Ha-Ma’pil verteidigt und dort Kinder unterrichtet. Gemeinsam mit ihrem Mann Mula Ben-Hayim aber, der als israelischer Kulturattaché ab 1963 in Moskau stationiert war und alle ihre Werke illustrierte, hat sie die Kontakte zu den isolierten jiddischen Autoren der Sowjetunion wieder angeknüpft. (…)
Doch ihren einstweilen letzten Lyrikband hat Rivka Basman mit gutem Grund „Liderheym“, Gedichtheimat, genannt, wohl weil das Jiddische mit seinen „Buchstaben aus Tränen“ der letzte Kontakt mit der ausgerotteten Welt ihrer Jugend in Osteuropa ist. Es wäre indes eine Zumutung, ihr Lebenswerk mit fast tausend Seiten einzig als Dokument einer Holocaust-Überlebenden zu lesen. Rivka Basman führt vor, dass ein Mensch – anders als Adorno meinte – nach Auschwitz nicht nur Gedichte schreiben kann, sondern auch ein Leben abseits des „churbn“ – so das jiddische Wort für die Schoah – führen darf. (…)
Es gibt leider noch keine deutsche, ja kaum eine englische Übersetzung von Rivka Basmans bittersüßen „lidern“. Sich selbst macht die letzte Königin der jiddischen Literatur, obgleich sie im Internet als Rezitatorin zu finden ist, kaum mehr Hoffnung auf ein großes Publikum. In einem wunderschönen Gedicht vergleicht sie ihr Werk „aus steinernen Wörtern“ mit einer seltenen Blume, die einsam in felsigem Grund wurzelt und blüht, „und außer den Felsen gibt es da niemanden, niemanden“. Es ist an der Zeit, diese so stolze wie traurige Vision zu widerlegen.
Gleichwohl geht die Ära der großen jiddischen Autoren nach der Vernichtung und Vertreibung von Millionen Menschen ihrer Heimatkultur zwischen Odessa und Wilna, Warschau und Czernowitz unaufhaltsam dem Ende entgegen. Der geniale Avrom Sutzkever, der wie Rivka Basman das Todesgrauen des Gettos von Wilna überlebte, starb 2010 mit fast hundert Jahren in Israel. (…) / Dirk Schümer, Die Welt
Es macht schon einen Unterschied, ob Rivka Basman als eine Betroffene ihre Gedichte nach dem Holocaust schreibt oder Nichtbetroffene, die für sich die „Gnade der späten Geburt“ reklamieren. Insofern behält der Satz von Theodor W. Adorno seine Richtigkeit, auch wenn die Nachkriegslyriker längst zur Tagesordnung übergegangen sind. Wer meint, dass irgendwann Schluß sein müsse, schöpft Wasser auf die Mühlen des Neonazismus und sollte sich an die Meinung von Eli Wiesel erinnern, welcher darauf hinwies, dass die Mahnung und Schande des Holocaust im öffentlichen Bewußtsein der BRD stets wach gehalten werden muss, damit „über den Wipfeln“ keine Ruhe einkehrt.
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