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Riccioli, Möbius. Die Gedichte des Bandes tragen die Namen von Mondkratern; indem die Mondkrater freilich nach berühmten Menschen benannt sind, ergibt sich hier die Möglichkeit zur doppelten Semantisierung, was zwar zuweilen aufleuchtet, aber soweit ich sehen kann und verstehe, nicht durchgängig zum Prinzip des Bandes gemacht wird. (Dass indes der nach dem großen Dichter Giovanni Pontano benannte Krater nicht vorkommt, der benachbarte, nach einem Mathematiker benannte Krater Sacrobosco hingegen schon, grämt mich ganz persönlich. Auch den Luftschiffer Giannozzo und seine Blickrichtung habe ich irgendwie vermisst.) Im Zuge der Lektüre aber treten die Gedichttitel vor der formalen Gleichmäßigkeit der 84 Gedichte in 8 Abschnitten zurück. Die Gedichte sind in dreiversigen Strophen gehalten, im lockeren Wechsel je drei bis fünf solcher Strophen. Die Verse sind alle in etwa gleich lang, im Mittel zwischen zehn und vierzehn Silben. Zuweilen finden sich Reime, die die Dreizeiler in wechselnden Ordnungen miteinander verspannen. Durch diese Gleichmäßigkeit dringt ein epischer Zug in den Gedichtband ein, eine Einladung, ja Verlockung zur linearen, fließenden Lektüre. Der ganze Band, mit einem Wort, arbeitet mit der Strukturanspielung der Terzine. Diese epische italienische Bauform des Verses ist freilich bekannt aus der experimentellen Kleinepik der Bukolik, aus didaskalischen und enkomischen Dichtungen, und vieles mehr. Eine Anspielung auf Dantes Commedia oder Petrarcas Trionfi wird indes kaum beabsichtigt sein.
Entdeckungen und Erwartungshaltungen. Blickt man die Gedichte durch die Brille der Terzine an, erscheinen sie plötzlich recht frei. Die Verslängen pendeln, wie gesagt, frei um die sachgemäßen elf Silben, die Reime nehmen jegliche Ordnung ein außer der charakteristischen kontinuierlichen Klammerform; da denkt man ein wenig an Rilkes Gedichte an Orpheus, die in ebener Art mit der Sonettform spielen. Viel zu drastisch würde es nun sein, wenn man von Terzinenhalbfabrikaten sprechen würde – denn Grünbein erweist sich tatsächlich als guter Reimer. Die Reimstrukturen schließen die einzelnen Gedichte gegeneinander ab, greifen also nicht über die Gedichte hinweg. Indes wird generös mit Waisen umgegangen, viele Gedichte reimen gar nicht, keinerlei Orthodoxie kommt auf. Dies hilft natürlich mit bei dem großen Kunststück, den Reim als strukturelle Erscheinung ganz in den Hintergrund zu versetzen, ihn gleichsam nicht „als Reim“ erscheinen zu lassen, sondern ihm die bloße Erzeugung von lautlicher Kohärenz und Evidenz zu überlassen. In diesem Sinne ist Grünbein ein guter Reimer – denn bei vielen Gedichten hätte man auf Anhieb gar nicht gemerkt, dass hier gereimt wird. Grünbein macht sich, durchaus verdienstvoll, auf den Weg zu einer Rückgewinnung des seriösen, unaufgeregten Reims, war der Reim doch durch lange Zeit wenn schon nicht für Komik, so doch für Pointen zuständig. (Die besten bleiben bekanntlich die Benn’schen.) Auch sind die Reimpaare zumeist recht weit von einander gestellt. In diesem Sinne reimt Grünbein unaufdringlich, angemessen – umso mehr, als unreine Reime in einer solchen Konzeption offen gereimter Dichtung ärgerlicher wären als in der strengen gereimten Form, auf die sie sich bezieht – wird der vereinzelte unreine Reim dort vom Konzept mitgetragen, muss der vereinzelte reine Reim hier das Konzept überhaupt erst erzeugen; dort ist der „Schaden“ punktuell, hier flächig. (Was auch passiert.)
/ Aus: Tobias Roth: Er ist nur halb zu sehen. Signaturen
Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr zum Mond. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2014. 151 Seiten. 20,00 Euro.
ebenso unbeantwortbar wie die, warum dieser post 9mal bewertet wird und die meisten gar nicht. oder ob es möglich ist, daß die gleiche person mehrmals abstimmt. spricht dafür, dieses ohnehin nicht sehr ernste feature wieder abzuschalten.
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