85. Hüter

DIE JOURNALISTEN spotten gern über DIE DICHTER. Wahrscheinlich nach dem Motto: Wer im Glashaus sitzt, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Auf der der Wahrheit verpflichtetsten (sic) Seite der taz räsoniert Peter Köhler:

Die Dichter sind die Hüter der Sprache, die Schatzmeister des Wortes und die Bewahrer des guten und richtigen Deutsch: Diese lustige alte Auffassung machte vermutlich in den fünfziger, sechziger Jahren ihren letzten Mucks. Falsch war sie bereits damals und vielleicht schon früher.

Oder ist es richtig, wenn Friedrich Schiller in seiner Geschichte über ein „Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache“ von einem Marquis schreibt: „Er rufte einen seiner Leute“? Oder wenn Bertolt Brecht im „Mann-ist-Mann-Song“ so loslegt: „Ach, Tom, bist du auch beir Armee, beir Armee? / Denn ich bin auch beir Armee, beir Armee!“?

Friedrich Nietzsche forderte, man müsse an einer Seite Prosa arbeiten wie an einer Bildsäule; doch ihm selbst ist der Meißel gelegentlich ausgerutscht. So feierte er Zarathustra in seiner Schrift „Ecce homo“ als die „höchste Art alles Seienden“ und die „umfänglichste Seele“, „die nothwendigste“, „die weiseste Seele“ und endlich als „die sich selber liebendste“. Chapeau!

Um Ihre Fragen zu beantworten, lieber Peter Köhler: die Antwort lautet in jedem einzelnen Fall: Ja, es ist richtig. Ist es richtig, wenn Friedrich Schiller in seiner Geschichte über ein „Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache“ von einem Marquis schreibt: „Er rufte einen seiner Leute“? Ja, doppelt und dreifach. Erstens weil Schiller als Dichter, also im Privatgebrauch der Sprache, kein Beamter war und deshalb nicht verpflichtet war, sich an eine mit Staats Segen kodifizierte Sprachregelung zu halten, die ja zweitens erst über 100 Jahre später von Konrad Duden und später seinen Nachfolgern überhaupt geleistet wurde; und drittens, weil er als Württemberger aus dem oberdeutschen Sprachgebiet stammte, und dort hat man die Aufgebung der schwachen Konjugationsform „rufte, geruft“, die im Alt- und Mittelhochdeutschen noch gebräuchlich war, nicht mitgemacht. Siehe z.B. im Grimm:

Schwache und starke formen des verbums im nhd. erst in diesem jahrh. hat die schriftsprache die schwachen formen rufte und geruft, die reste des mhd. rüefen aufgegeben. dagegen ist in oberd. mundarten die schwache flexion zum theil neben der starken gewahrt. bair. ich rueffet, geruefft, gerüefft neben ich rieff, gerueffen Schm. 2, 68, in Tirol rueffen, rüeffen, grüefft Schöpf 566, kärnt. geruoft, girüeft neben giruofn Lexer 210, schweiz. rüeffe, rief und rüefti, grueffe und grüeft

Ebenso in jedem anderen ihrer Beispiele. Weglassen von Lauten aus klanglichen oder rhythmischen Gründen ist im mündlichen und dichterischen Sprechen erlaubt. Ob es ein höchstes Wesen gibt, fragen Sie am besten den Papst, bei notwendigst oder liebendst genügt ein Stilistiker oder besser ein Philosoph. Als Faustregel kann man aber gelten lassen: 1. Alles ist erlaubt, was nicht verboten ist, und 2. Verboten ist der freie Gebrauch der Sprache nur Staatsdienern nach Maßgabe von Dienstvorschriften. Der kann auch Hüter der Sprachrichtigkeit einsetzen: im Schuldienst. Dafür sind die Dichter wirklich nicht zuständig.

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