104. Siegel

Ja, die Form ist das Ziel, »zeig Füße, Hände, den stirnflachen Schädel/ und laß dich berühren, dich gar beschreiben«, heißt es in Gomringers Gedicht »Es sprach der Rabbi Löw«, einer Selbstermächtigung. Das lyrische Ich stellt sich zu Gott und stößt ihm Bescheid. »Sorge für Ruhe im Viertel«, fordert es. Und: »Hol mir die Töchter aus den Betten ihrer Schänder«. Es endet in biblischer Blasphemie: »Ich dein Schöpfer, du am Schopf« … meiner Ratlosigkeit, könnte man ergänzen.

Ohne Eifer, Zorn und Rücksicht bricht Nora Gomringer in diesem Gedicht die Siegel. Es ist morgenländisch frisiert, sein Atem läßt Rauch über Hütten wehen, fern der Paläste. In Brunnen faulen Pferde mit geplatzten Bäuchen. Folglich ist Violett die Farbe des Gedichts. Violett wie die Flügel der Schmeißfliegen. Der ganze Monotheismus steckt in dieser violett verrauchten Angelegenheit.

Jedem Gomringer-Gedicht kann man sich so widmen, egal, ob E. oder N. E. Gomringer unterschrieben haben – und weil das so schön ist, siebe ich den Sand der Einzelheiten am nächsten Beispiel.

»Jäger

Du bringst Kuchen und Wein, triffst den Wolf.
Der macht seine Hose auf und sagt:
Faß hinein.«

/ Jamal Tuschik, junge Welt

Nora Gomringer: Monster Poems, illustriert von Reimar Limmer. Voland & Quist, Dresden 2013, 64 Seiten, 17,90 Euro

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