43. Vergils Signatur

Angesichts der Tatsache, dass die «Aeneis» während mehr als zweitausend Jahren gelesen, kommentiert und interpretiert wurde, erscheint die Vorstellung einer völlig neuen Entdeckung in diesem klassischen Text auf den ersten Blick wenig wahrscheinlich. Genau eine solche will aber der Tessiner Philologe Cristiano Castelletti gemacht haben, der sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit der epischen Dichtung der augusteischen Zeit beschäftigt. In einer kürzlich in der Fachzeitschrift «Museum Helveticum» veröffentlichten Studie zeigt er, wie sich in den ersten vier Zeilen des Epos die Signatur des Dichters in Form eines Akrostichons identifizieren lässt – das heisst als Figur, in der die ersten und (in diesem Fall) die letzten Buchstaben mehrerer Verszeilen ein Wort, einen Namen oder einen Satz ergeben:

«Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris / Italiam fato profugus Laviniaque venit / litora, multum ille et terris iactatus et alto / vi superum saevae memorem Iunonis ob iram [. . .]»

(Die deutsche Übersetzung von Johannes Götte lautet: «Waffentat künde ich und den Mann, der als erster von Troja, / schicksalsgesandt, auf der Flucht nach Italien kam und Laviniums / Küsten, viel über Lande geworfen und wogendes Meer durch / Göttergewalt, verfolgt vom Groll der grimmigen Juno [. . .]»)

Das Akrostichon enthüllt sich, wenn die ersten und die letzten Buchstaben der vier Verse in jeweils abwechselnder Richtung gelesen werden: «a stilo m[aronis] v[ergili] – «aus dem stilus (Griffel) des Vergil Maro».

(…)

Vergil wählte für seine Verfasserangabe eine vom griechischen Dichter Aratos von Soloi geprägte Form des Akrostichons. Es handelt sich um eine archaische Form der Figurendichtung, die der Thematik der «Aeneis», dem Gedicht über die mythischen Ursprünge des Römischen Reiches, entspricht. Der «stilus», mit dem Vergil die «Aeneis» gemäss seiner Signatur verfasste, ist nicht nur ein Schreibinstrument, das Furchen in die Wachstafel ritzt, sondern auch eine Waffe. Er kündigt eines der zentralen Motive der «Aeneis» an, die kriegerischen Auseinandersetzungen und den Tod, und steht damit im Gegensatz zu den «Georgica», die dem Landbau gewidmet sind. / Thomas Kadelbach, NZZ

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