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Rolf Dieter Brinkmann übersetzte einmal zusammen mit Ralf Rainer Rygulla ein Gedicht von Guillaume Apollinaire – ohne Französisch zu können. Sie assoziierten einfach ähnlich klingende deutsche oder englische Wörter, nach der Originalanmerkung „nach dem im Augenblick des Lesens sich einstellenden Oberflächenverständnisses“ [sic]. Aus „La jolie rousse“, die schöne Rothaarige, wurde „Der joviale Russe“. Die erste Zeile lautet im Original:
Me voici devant tous hommes pleins de sens
Fritz Usinger übersetzte es so:
Vor allen bin ich ein Mann voll Vernunft
und Gerd Henniger:
Bei allen gelte ich als ein Mann mit Vernunft
Brinkmann und Rygulla schreiben:
Meine Stimme verlangt nach einem Heim plan wie eine Sense
Bertram Reinecke stellte das Experiment nach mit einem Text von Gerardo Diego aus dem Spanischen. Allerdings statt mit spontanen Assoziationen mit Benutzung eines Wörterbuchs – aber ohne Spanischkenntnisse. Àxel Sanjosé kritisierte damals einen Fehler, ohne die Entstehungsumstände zu kennen – und wunderte sich dann, daß „trotzdem“ fast alles richtig war.
2004 Aug #8. Generation von 1927
Vor einigen Tagen brachte L&Poe drei Nachrichten über eine argentinische Lyrikerin, Alfonsina Storni:
Die Rezensenten der kürzlich erschienenen deutschen Ausgabe loben die Dichterin und tadeln die Übersetzung:
Nur mit dem Übersetzer hatte Bochud diesmal kein Glück. Das Nachwort – stilistisch ein Trauerspiel. Und manche Verse holpern, stolpern. Wer mag und kann, halte sich an die unverwüstlichen Originale gleich neben der Übertragung. / Uwe Stolzmann
Die letzte Zeile heißt im Original „y hay una una que se escurre por tu sexo“, und auch dem Nicht-Spanischsprechenden wird sofort klar, daß die Übertragung nicht ganz gelungen sein kann und tatsächlich nicht ist. Es ist das einzige Manko des Buches. Der Übersetzer Reinhard Streit ging eigenwillige Wege und kommt damit manchmal nicht dort an, wohin die Autorin eigentlich zielte. Oft fehlen die gereimten und rhythmischen Strukturen des Originals völlig, werden kurze Ausrufe in Sätze verwandelt und kurze Sätze in lange Passagen. Da die Gedichte zweisprachig abgedruckt sind, kann man einiges wieder gerade denken, was der Übersetzer glaubte verbiegen zu müssen, und kommt über diesen Umweg zu einem Wissen über die ursprüngliche Melodie und Geste, die bei Alfonsina Storni wesentlich sind. / Frank Milautzcki
Vielleicht ist alles noch viel schlimmer. Die von Milautzcki zitierte Zeile machte mich neugierig. Ich googelte nach dem Text und wurde fündig. Allerdings war die gefundene Fassung fehlerhaft. Àxel Sanjosé machte sich die Mühe, die Fehler im Originaltext zu korrigieren. Zur Übersetzung schrieb er einen ausführlichen Kommentar – siehe nächste Meldung.
Aus „La jolie rousse“, die schöne Rothaarige, wurde „Der joviale Russe“.
Aus „La jolie rousse“ einen „jovialen Russen“ zu zaubern, hat mich bei meinen doch auch (trotz) bescheidenen Sprachkenntnissen sehr an RTL-Samstag-Nacht erinnert:
Darf ich sie mal an die B(t)heke …itten?
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