73. Auf Literatur gebaut

Das eigentlich Überraschende an dem Buch aber ist sein literarisches Genre. Uwe Tellkamp, der Romanschriftsteller, der Autor des preisgekrönten „Turms“, auch ein Lyriker? Wer freilich ein Gespür für Sprache hat, der wird – bei der Ausdruckskraft, der Intensität und poetischen Verdichtung von Tellkamps Romansprache – über die Publikation nicht überrascht sein. Zumal diese Lyrik selber ins Episch-Summarische tendiert. Nicht auf Sand, auf Literatur ist Tellkamps namenlose Stadt gebaut.

Schon die Namen einzelner Figuren sind ein Indiz: Der Kastellan des Archivs heißt Prospero, eine Versicherungsmaklerin Zenobia Quichotte, die Architektin in der Hafen-City Penelope; auch der Baron von Münchhausen und Scheherazade fehlen nicht. Und der Satz: „Wir reisen nach innen“ zitiert fast wortgetreu Novalis‘ berühmte Formel: „Nach innen geht die geheimnisvolle Reise“. So outet sich Tellkamp als verkappter Romantiker. Ein Indiz ist schon die allgegenwärtige Farbe Blau, sie lässt an die romantische Suche nach der Blauen Blume denken. Und das lyrische Geschehen? Ist ein bisschen undurchsichtig und im Grunde Nebensache, es verschwindet beinahe unter den fantastischen Blüten der Imagination, den Kapriolen der Sprache.

Denn dies ist das Buch vor allem anderen: ein ausgelassenes, virtuoses Sprachspiel, das an den Mitspieler oder Leser stellenweise enorme Anforderungen stellt. Über seine fantastisch-hermetischen Bilder und verrätselten Anspielungen dürfte sich künftig noch so mancher germanistische Dechiffrierkünstler den Kopf zerbrechen. / Hans-Dieter Fronz, Mannheimer Morgen 16.11.

Uwe Tellkamp: Reise zur blauen Stadt. Insel. 110 S., 12.80 Euro.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..