79. Crnjanskis Ithaka

Immer von neuem muss an ihn erinnert werden, an den neben Ivo Andric und Miroslav Krleza dritten grossen modernen Klassiker des alten Jugoslawien: Milos Crnjanski (1893–1977). Es ist um Crnjanski im deutschsprachigen Raum – trotz mehreren Übersetzungen – seltsam still geblieben. Dabei hat er mit seinem autobiografisch grundierten «Tagebuch über arnojevi» (1921, dt. 1993) einen der schockierendsten und lyrischsten Texte über den Ersten Weltkrieg vorgelegt und mit seinem Romanepos «Wanderungen» (1927–1962, dt. «Bora», 1988) ein Opus magnum über die Geschichte der Serben unter Kaiserin Maria Theresia, dessen Lektüre manche heutigen Konflikte zu erhellen vermag. Indes wird Milo Crnjanski ignoriert, und man mag sich fragen, warum.
Unter bewegten Umständen schuf Crnjanski ein vielseitiges Werk, bestehend aus Gedichten, Romanen, Reisebeschreibungen, Essays, historischen Dramen und autobiografischen Aufzeichnungen. Zu Letzteren gehören die lebens- und werkgeschichtlich höchst aufschlussreichen «Kommentare zu » (1959, dt. 1967), die nicht zuletzt die Entstehung des Frühwerks, insbesondere des Lyrikbandes «Ithaka» beleuchten. «Ithaka» liegt nun seit kurzem auch auf Deutsch vor – ein Anlass, diese ausserordentlichen Gedichte und ihren Autor zu würdigen.

Es spricht – stellvertretend für eine lost generation – das Ich eines traumatisierten Kriegsheimkehrers und modernen Odysseus: aufmüpfig, anarchisch, widersprüchlich, elegisch, provokativ. Und dies in Hymnen und Grotesken, in Trinksprüchen und Scherzen, in Galgen-, Schlaf- und Soldatenliedern. Basso continuo ist der Krieg mit seinen Folgen: Wut, Trauer, Ekel, Sinnlosigkeit. «Nichts haben wir, keinen Gott, keinen Herrn. / Unser Gott ist das Blut», heisst es, oder sarkastisch: «Es geht uns gut.» «Das Schönste ist nicht: die Liebe, / sondern für ein bisschen Sonne zu töten und früh zu sterben.» Milo Crnjanski gibt einen defaitistischen poète maudit, wenn er ausruft: «Sei gegrüsst, Welt, blass wie ein Wintertag, / ängstlich taub. (. . .) / Für unsere Herzen ist nichts genug. / Für unsere Herzen ist alles Betrug. / Solang noch einer von uns atmet dieser Erde Luft: / verströme kein Garten seinen Duft. (. . .) / Wir sind für den Tod!» / Ilma Rakusa, NZZ 20.5.

Miloš Crnjanski: Ithaka. Gedichte. Aus dem Serbischen von Viktor Kalinke, nach Vorlagen von Stevan Tonti und Cornelia Marks. Erata-Literaturverlag, Leipzig 2008. 214 S., Fr. 30.20.

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