1. Sensation: Sappho-Gedicht entdeckt

Der Dezember [2004!] beginnt mit einer Sensation. Aus über zweieinhalb Jahrtausenden taucht ein Gedicht von Sappho auf:

Ein vor kurzem veröffentlichter Papyrustext vervollständigt endlich ein Gedicht aus dem vierten Buch der Lieder Sapphos. Ein Teil dieses Liedes war bereits auf einem anderen Papyrusfragment aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. zutage gekommen, das in Oxyrhynchos in Mittelägypten gefunden und 1922 veröffentlicht worden war; es enthält allerdings nur die rechte Hälfte einer Schriftkolumne mit den Versenden, denen sich bisher kein zusammenhängender Sinn abgewinnen liess. Durch einen glücklichen Zufall hat sich nun ergeben, dass sich der neue Papyrustext, der aus einem Stück eines Mumiensarges aus Kartonage herausgelöst wurde und sich in der Sammlung des Instituts für Altertumskunde der Universität Köln befindet, teilweise mit zwölf der Versenden in dem schon seit langem bekannten Fragment aus Oxyrhynchos überschneidet. Der Kölner Papyrus ist etwa fünfhundert Jahre vor jenem geschrieben worden, zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr., wie die altertümlichen Buchstabenformen erkennen lassen. Damit ist er der älteste Textzeuge einer Buchrolle mit Gedichten der grossen Dichterin aus Lesbos.

Der neue Papyrus ergänzt jetzt den Text des Fragments aus Oxyrhynchos, dem er in den Zeilen, in denen sich die beiden Papyrustexte überschneiden, jeweils zwischen sechs und zehn Silben hinzufügt. / NZZ 1.12.

 

Dies die Prosa-Rekonstruktion:

Wieder, ihr Mädchen, bringe ich diese schönen Gaben der veilchengegürteten Musen, indem ich die gesangliebende, helltönende Leier zur Hand nehme Vertrocknen liess mir die Haut, die zart einst war, nun das Alter, Furchen sind darin, weiss wurden die Haare aus schwarzen. Schwer ist mir das Herz gemacht, die Knie tragen nicht, die doch einst leicht waren zu tanzen, jungen Rehen gleich. Aufseufzen muss ich oft – doch was könnte ich tun? Alterslos kann man als Mensch nicht werden. Denn wie man glaubte, dass einst den Tithonos die rosenarmige Eos, die wir unvernünftig nennen, bis ans Ende der Welt trug, dass sie ihn zum ewig jungen Bräutigam hätte, doch ihn ergriff dennoch das zitternde Alter, ihn, der vergeblich eine unsterbliche Gattin hielt, . . . er glaubt . . . möge verleihen. Ich aber liebe das Erlesene: oftmals hat diesen Glanz auch mir Liebe zur Sonne geschenkt, und das Schöne.

Und hier eine englische Übersetzung des bisher bekannten Fragments (jedenfalls vermute ich das!**) – das passendste Fragment, das ich bislang finden konnte – falls jemand Genaueres weiß: Mail!) durch Anne Carson, 2002 – ein Beispiel für ihre Poesie der aufregenden Klammern:

[In both the Greek originals and in her translations, Carson uses brackets to indicate missing or illegible material. For Carson, „brackets are exciting“ (p.xi), and in fact they do invite the reader to fill in the blanks more strongly than does the use of ellipses:]

]
]
] pity
] trembling
]
] flesh by now old age
] covers
] flies in pursuit
]
] noble
] taking
] sing to us
the one with violets in her lap
] mostly
] goes astray [#21; p.39]

**) meine Vermutung war falsch! genauere Angaben in Nachricht 39

2 Comments on “1. Sensation: Sappho-Gedicht entdeckt

  1. Pingback: 39. Sappho-Fragmente | Lyrikzeitung & Poetry News

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