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Natürlich ist diese neue Generation nicht so naiv, sich gänzlich dem Traditionszertrümmerer Brinkmann hinzugeben. Was sich da mit sehr eigenen Wahrnehmungsweisen und Abweichwinkeln in dieser Anthologie tummelt, bewegt sich durch die unterschiedlichsten lyrischen Galaxien: von Mandelstam bis Brinkmann, von Rilke bis Rühmkorf, von Leonard Cohen bis Jimi Hendrix – und weit darüber hinaus. Aber trotz der varietätenreichen Artikulationsformen verblüfft doch die Bewunderungsbereitschaft, mit der Rebellen-Posen der Altvorderen gecovert werden.
Bei mindestens vier der insgesamt 74 Autoren (Jan Volker Röhnert, Crauss, Björn Kuhligk, Tom Schulz) ist Brinkmann die überlebensgrosse Figur, die mittels stilistischer Mimesis und peinlich devoter Reminiszenzen angerufen wird. Und hätten sich die lyrischen Erbschaftsanwärter Brinkmanns nicht jedes allgemeingültige Bekenntnis verboten – sie könnten von dem radikalen Anti-Traditionalismus ihres Vorbilds durchaus profitieren. Denn der Aufbruchs-Behauptung dieser neuen Anthologie liesse sich als Motto eine lässige Sentenz Brinkmanns aus dem Band «Westwärts» implantieren: «Ein neuer Realismus entstand, er stand rum.» Denn es ist – schon wieder – ein «neuer Realismus», ein sehr alter Bekannter also, der sich da in sehr vielen Texten der Anthologie breit macht. …
Das Ergebnis ist ein lyrischer Gemischtwarenladen, in dem man die wirklich singulären Dichter mit der Lupe suchen muss.
Von den «74 Stimmen» sind – bei grosszügiger Betrachtung – gerade mal zwei Dutzend als lyrisch eigenständige Dichter ernst zu nehmen, der übergrosse Rest geht den Weg des geringsten ästhetischen Widerstands. Aber wer mit ein wenig Geduld die «Lyrik von JETZT» studiert, wird auch auf die originären Sageweisen, die kühnen Artikulationen jener Dichter stossen, die wirklich Aufmerksamkeit verdienen.
Da sind die Wahrnehmungs-Exerzitien eines Nico Bleutge, optische Feineinstellungen als Vorschule eines neuen Sehens; da sind die intensiven, ganz auf das Rätsel der Physis konzentrierten Körperbilder Silke Andrea Schuemmers; da sind die überwältigenden mystischen Schöpfungsgeschichten Christian Lehnerts oder die kalten Stillleben der Liebe von Marion Poschmann. Da trifft die lyrische Mentalitätshistorikerin Sabine Scho, die mit schroffen Montagen die vom Faschismus kontaminierte Sprachlandschaft der Adenauer-Zeit durchquert, auf den Anti-Idylliker Hauke Hückstädt, einen Spezialisten für die ironische Unterminierung von Genrebildern und Alltagsszenen./ Michael Braun, Basler Zeitung 25.7.03
Björn Kuhligk/Jan Wagner (Hg.): «Lyrik von JETZT». 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. DuMont, Köln. 422 S., Fr. 27.90.
Gerade mal zwei Dutzend? Also dann: kaufen! und mit Geduld lesen! MG
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