Sprechsonate

Wie vielleicht kein anderer Schriftsteller der Gegenwart spürt der in Wien lebende Gert Jonke den Grenzen nach, an denen sich die Wortsprache mit Musik berührt. Er folgt dabei keinem Schema; jedes Buch, in dem der ebenso wortmächtige wie musikalische Autor seine Forschungen weitertreibt, gerät unverwechselbar. So auch sein neuestes, „Redner rund um die Uhr“, dessen musikalischen Charakter der Untertitel benennt: „Eine Sprechsonate“. / SZ 11.4.03

GERT JONKE: Redner rund um die Uhr. Eine Sprechsonate. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2003. 63 Seiten, 16 Euro

(Ernst Jandl gewidmet)

S.a.: NZZ 17.4.03

Endlich erlöst

Mir ist, als wachte ich vom Tod auf oder jedenfalls von einer langen Zeit der Bewußtlosigkeit. Ich weiß nicht, wie oft heute das Telefon geklingelt hat. Wie oft ich freudig mit Irakern und Irakerinnen, die ich gar nicht kenne, halluziniert habe. Jeder will an diesem Tag seine Freude ausdrücken.“ / Khalid al-Maaly: Endlich erlöst. Wie ich den Fall Bagdads erlebte. FAZ 11.4.03

Ror Wolf

Der Autor Ror Wolf erhält in diesem Jahr den mit 15 000 Euro dotierten Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Gewürdigt werde damit das Gesamtwerk des in Mainz lebenden Schriftstellers, teilte die Akademie am 10.4.03 mit. (dpa)

Beydoun & Kleeberg

Das – dem Dialog mit der islamischen Welt gewidmete – Webportal qantara.de bringt in Fortsetzungen einen Briefwechsel zwischen dem libanesischen Dichter Abbas Beydoun und dem deutschen Autor Michael Kleeberg über den Irakkrieg.

Vgl. auch SZ 10.4.03

„Te brader, non“

Die Versteigerung der Millionen-Schätze des französischen Schriftstellers und Surrealisten André Breton hat gestern in Paris turbulent begonnen. Demonstranten verteilten vor dem Pariser Auktionshaus Drouot-Richelieu falsche 10-Euro-Scheine mit dem Porträt Bretons und folgender Aufschrift: „Euer Geld stinkt nach dem Kadaver des Poeten“. Die Demonstranten wurden von Sicherheitskräften auseinandergetrieben. Mit dieser Aktion wollten sie gegen die „Zerstörung französischen Kulturerbes“ demonstrieren.
dpa 8.4.03 – Für die SZ berichtet Gerd Kröncke am 9.4.03:

Der Romancier Didier Daeninckx hatte ein Anagramm verfasst, das vor der Auktion auf Flugblättern in die Menge geworfen worden war: „André Breton, te brader, non.“ Aber verramscht worden ist er nun wirklich nicht, und am Ende der Auktion dürfte sich die Schätzung von dreißig Millionen noch als zu vorsichtig erweisen. Bretons Tochter hatte sich zur Versteigerung erst entschlossen, weil sich keine staatliche oder private Institution fand, die Sammlung geschlossen zu erhalten. Zur Auktion zu kommen, das hat sie sich erspart.

Rauriser Literaturtage

Alfred Kolleritsch, der Philosoph unter den Dichtern, leuchtet auf der Heimalm aufs «hohe Gestell der Dauer». Der Rhythmus seiner Gedichte und ihre Rede von allem, was «blutstürzlerisch schnell / auf der Schwelle verschwunden» ist, können sich in der Skihütten- Ambiance kaum Gehör verschaffen. / Paul Jandl, NZZ 7.4.03

Meine Tippe überfüllt die Lyrik

schreibt Kurt Schwitters. Nachzulesen in der SZ-Reihe Briefe aus dem 20. Jahrhundert XIV am 5.4.03:

Kurt Schwitters an Carola und Sigfried Giedion (1929) – Carola Giedion(-Welcker) gab 1946 – Schwitters lebte noch und war ein toter Hund im englischen Exil – in der Schweiz die Anthologie der Abseitigen heraus, die den deutsch oder französisch Lesenden solche Abseitige präsentierte wie: Henri Rousseau, Wassily Kandinsky, August Stramm, Paul Klee, Pablo Picasso, Kurt Schwitters (and so on!).

Liebe Giedionsens!

Auf der Landstrasse am 5.11.29

Nach einer uffregenden Seereise über den abgrundtiefen Bodensee sitze ich im überheizten D-Zug-Abteil und tippe an Sie.

Meine Tippe überfüllt die Lyrik, wenn sie an Zuerich denkt, es war fabelhaft bei Ihnen, CW, Giedion, Guerilla, der Kürbiss. Das Auto, Elsa, Marion, und was es alles an Attractionen und Attractiönchen gab.

Lever du Poète

Denn Chessex wechselt im Lauf des Tages seine Arbeitstische, indem er dem Lauf der Sonne folgt. Als Frühaufsteher begrüsst er den Tag mit einem lyrischen Morgengesang, es ist der Moment vor dem alltäglichen Sündenfall – le lever du poète, und die Teufelchen, noch matinal befangen, wissen nicht, sollen sie dazu Couperin spielen, «Le Lever du Roi», oder sich die Ohren zuhalten wegen eines klösterlichen Chorals, der zum Lobgesang des jungen Tages angestimmt wird.

Morgen für Morgen wachsen die Stapel von Manuskriptblättern, ohne Elaborieren und weiteres Feilen, spontan das Niederschreiben, dem momentanen Einfall anheim gegeben. Datum und Uhrzeit festgehalten: 4 avril 7 h 45 und 7 h 47. Keine Retuschen. Versnotizen. Chessex, der mit Lyrik angefangen hat, ist ihr treu geblieben. Aber er würde ja auch nie ohne Notizblock ausgehen. Jeden Augenblick bereit, festzuhalten, was seine Wahrheit komplettieren könnte, die er nie als endgültig betrachtet. / Hugo Loetscher über den Schweizer Autor und Maler Jacques Chessex, NZZ 5.4.03

Außerdem heute: Chessex im Schweizerischen Literaturarchiv.

Adolf Wölfli in New York

Es sieht so aus, als hätten die ihn bedrängenden Stimmen ihm seinen Lebenslauf mehr und mehr in monströsen Zahlengebäuden diktiert, oder – wie in dem «Album mit Tänzen und Märschen» – in phonetische Klangmuster übersetzt. Allemal aber folgt die Algebra seiner Visionen einer eigensinnigen Logik, die nur begrenzt in Sprache zu übertragen ist. Wölflis Riesenschöpfungen sind autonome Gebilde, nicht lesbar auf eine Intention oder Aussage hin, nach den Rhythmen einer unerhörten Sphärenmusik skandiert. In den letzten zwei Jahren seines Lebens komponierte «Seine Sterbende Exzellenz», wie sich Wölfli, von Todessehnsucht getrieben, gern nannte, einen 8300 Seiten umfassenden «Trauer- Marsch». / NZZ 5.4.03

Bericht der New York Times siehe L&P [03/2003]

Most people will

tell you that there’s no single, unifying “style“ in contemporary American poetry; instead, conventional wisdom has it that our verse exists in a variety of forms and voices as dazzlingly individual as snowflakes or Baptist churches. Whether this is actually the case — whether, 200 years from now, our descendants will leaf through dusty poetry anthologies and say, “My, how different they all sound!“ — is debatable; what is not so debatable is that very, very few American poets sound anything like Charles Simic. …
Simic is often described as a surrealist, and to the extent surrealism depends on phantasmagoria, the shoe may fit. But if so, he’s a surrealist with a purpose: the disconcerting shifts and sinister imagery that characterize his work are always intended to suggest — however obliquely — the existential questions that trouble our day-to-day lives. / David Orr, NYT *) 5.4.03

Gedichte zum Wochenende

Ein Sonett von José Antonio Muñoz Rojas in der NZZ vom 5.4.03 – – – In Rolf Schneiders Berliner Anthologie, Berliner Morgenpost vom 6.4.03: Peter Huchel, Havelnacht.

439x Bukowski

Albert Ostermaier bespricht in der FAZ vom 5.4.03 die Bukowski-Klassiker-Ausgabe bei Zweitausendeins

Charles Bukowski
„439 Gedichte“

Zweitausendundeins Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 386150457X
Gebunden, 500 Seiten, 25,00 EUR

Wolkenlesen

[Richard] Anders, der in Athen und Zagreb deutsche Sprache und Literatur unterrichtete, ist als Schriftsteller erst in den 60er Jahren an die Öffentlichkeit getreten. Nachdem er durch den kroatischen Surrealisten Radovan Ivsic´ als „Sympathisant“ in André Bretons Pariser Zirkel eingeführt worden war, veröffentlichte er 1969 seinen ersten Gedichtband, „Die Entkleidung des Meeres“, 1979 die „Zeck“-Geschichten – beides Werke, die in den fließenden Grenzen zwischen Dingwelt und Menschenwelt, der Verschränkung von Bildhaftigkeit und Sprachspiel deutliche Spuren der surrealistischen Ästhetik zeigen. „Während du weggehst und wiederkehrst“, heißt es in dem 1980 erschienenen Gedichtband „Über der Stadtautobahn“, „füllen Jahre den Himmel aus, / Antworten übereinandergeschrieben, bis / alle Bedeutung in ihnen verschwunden ist.“

Anders ist dem Surrealismus, der sich längst ins Zeitlose zurückgezogen hatte, als es zur Begegnung mit Breton kam, nie vorbehaltlos gefolgt. Was ihn faszinierte, war das Verfahren des „psychischen Automatismus“, Botschaften aus dem Unbewussten – Träume, Ahnungen, Phantasien, unzusammenhängende Satzfetzen – zu sammeln. Erst in einem zweiten Schritt folgt dem Spiel der Bilder und Assoziationen, dem freien Laufenlassen der Hand die Überarbeitung, die seinen Gedichten und Prosatexten Form und Verbindlichkeit gibt. Nach diesem Verfahren geht er bis heute vor – als Einzelgänger wie die wenigen deutschen Surrealisten überhaupt, die es gegeben hat und noch gibt.

Die Wende hat Anders eine neue interessierte Leserschaft hinzugewonnen, seinen vielfach mit eigenen Collagen ausgestatteten Texten neue Publikationsmöglichkeiten gebracht wie die Ostberliner „Edition Maldoror“ und die Zeitschrift „Herzattacke“. 1998 ist ihm in Greifswald der Wolfgang-Koeppen-Preis verliehen worden. Im Verlag des dort erscheinenden „Wiecker Boten“ hat er jetzt den Sammelband „Wolkenlesen“ veröffentlicht, der auf Rundfunkessays und Vorträgen der 90er Jahre beruht. „Wolkenlesen“ enthält die Quintessenz seiner Erfahrungen mit den zum Schlaf überleitenden hypnagogen Bildern, den Grauzonen äußerer und innerer Realität. / Rolf Strube, Tagesspiegel 5.4.03

Richard Anders: Wolkenlesen. Über hypnagoge Halluzinationen, automatisches Schreiben und andere Inspirationsquellen. Verlag Wiecker Bote, Greifswald 2003. 169 Seiten, 15 €.

Richard Anders: Marihuana Hypnagogica. Protokolle. Verlag Druckhaus Galrev, Berlin 2002. 147 Seiten, 20 €.

Richard Anders stellt von Sonnabend, den 17. Mai an für 3 Wochen seine Originalcollagen zu „Marihuana Hypnagogica“ im Rahmen der nächtlichen Schau „Mysterien“ im Schloß Penkun aus.

Dauergeheimtip (Kling über Pastior)

Erinnerung – lassen wir das Sprachmaterialhafte des Werkes einmal außen vor, freilich ohne das Sprachmaterial außer acht zu lassen, und denken an die von innen glühenden, an die Erinnerungs-Halden, an all das Ausgebrannte, Miese, arrogant Übersehene und Verdrängte, an das aus dem Kanon Ausgeschiedene, denken wir an die Erinnerungs-Schlacke, zusammengebacken aus vergessenen Worten, aus fremdklingenden Sprachpartikeln, aus niemals so ganz fremden Fremdsprachen und hundert anderen Inhaltsstoffen. Aus solcher Schlacke kann einer wie er immer noch Funken schlagen – Poesie machen.

„Taubes Gestein“? Wer nicht hören kann, fühlt nichts. Wer nicht buchstabieren kann, übersieht. Angst essen Seele auf, wir kennen das von Faßbinder; Dichtung, scheint Pastior leise beizufügen, hält Leib und Seele zusammen. / Thomas Kling, FR 4.4.03

Soeben erschien in der „Edition Akzente“ des Hanser Verlags der zweite Band der Werkausgabe Oskar Pastiors. Thomas Kling hielt diese Rede als Hommage auf den Ehrengast Oskar Pastior während des „Literarischen Märzes 2003“ in Darmstadt. Zuletzt erschien von Thomas Kling der Gedichtband „Sondagen“ im DuMont Verlag.

Peter Huchel 100

Dennoch war der Dichter eher durch seine exponierte Rolle im Literaturbetrieb zum politischen Fall Huchel geworden. In seinem biografischen Abriss für Text + Kritik zeichnet Peter Walther die Geschichte dieses Missverständnisses nach. Nebenbei raut er erfreulicherweise das allzu glatte Huchel-Bild ein wenig auf. Für die Jahre der Inneren Emigration galt immer Alfred Kantorowicz‘ Wort vom „beredten Schweigen des Dichters Peter Huchel“. Die Verweigerungshaltung vertrug sich allerdings bestens mit der Publikation etlicher Hörspiele zwischen 1934 und 1939. Auch macht Walther keinen Hehl daraus, dass Huchel „der Übergang in die neue Zeit erstaunlich schnell und reibungslos“ gelang. 1951 verlieh ihm die DDR den Nationalpreis (III. Klasse). / FR 3.4.03

Drei-Dichter-Haus: Im Huchel-Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam wohnte nach Huchels Ausreise Erich Arendt. Jetzt organisiert dort der Dichter Lutz Seiler das (regional teils immer noch wenig geschätzte) Andenken an Huchel.

Siehe auch NZZ und FAZ vom 3.4.03