Jeder Überragende schickt ein Dutzend Große in die Kälte der Vergessenheit. Ein Celan verdunkelt die Eich, Lehmann, von der Vring, Bobrowski und Lavant. Die wir sonst stets die liberale Vielfalt preisen, anerkennen unbeirrt den Monarchen, den Ersten und Einen, die führende Größe, die die schwach Lesenden zusammenhält und ihnen Orientierung bietet. Obgleich doch die Kunst in Höchstformen nur existiert, weil sie im Ganzen von den Vielverschiedenen geschaffen wird. Man muss sogar dem Ranking, das die Geschichte selbst, die Überlieferung vornimmt, zuwider lesen. Erst dann verdient man das kleine und seltene Ehrenabzeichen des Lesers.
Das schickt Botho Strauss in der Zeit 26/03 einem Würdigungsartikel für Konrad Weiß voraus, den vergessenen großen Mystiker-Dichter:
Äußerste Verdichtungen der Sprache, oder besser gesagt: gesteigerte, ausgangslose Erlebnisformen des Deutschen, wie Hamann, Hölderlin, Weiß sie uns übertrugen, sind unverzichtbar, um die Sprache als Dienstmittel, sei es in der Erzählkunst oder der gesellschaftlichen Verständigung, von Zeit zu Zeit stärkend zu unterbrechen, damit sie nicht konstant ihrem Mangel anheim fällt. Dies geschieht unvermeidlich um den Preis der Abgeschlossenheit, denn im Herzen der Verdichtung kann zunächst kein anderer als der Dichter sein.
(Da derzeit kein einziges Buch von Konrad Weiß im deutschen Buchhandel lieferbar ist, verweist die Zeit im WWW dankenswerterweise auf ZVAB , wo es zahlreiche Angebote gibt.)
Im WWW:
Helmut Kreuzer , Ein Blick auf Konrad Weiß und seine Lyrik
Jürgen Brocans Ideale Bibliothek
/ 18.6.03
Inger Christensen hat dieses Langgedicht, das nun erstmals auch auf deutsch vorliegt, im Jahre 1969 veröffentlicht, im Alter von 34 Jahren. Unter der Hand, ja recht besehen mit der Niederschrift des ersten Wortes verabschiedet sie darin ein Zeitalter: die Moderne Mallarmés, Valérys, Blanchots. Mallarmés texttheoretisches Evangelium, wonach das Wort die Abwesenheit des Dings bezeichnet, wird durch ein neues Bedingungsverhältnis ersetzt. Die Autorin beruft sich auf die sprachgeschichtlichen Untersuchungen Noam Chomskys, wird aber auch von Naturwissenschaftlern gestützt, die für die beiden großen Evolutionsprozesse der Natur, die Evolution der Arten und die Evolution des Geistes, die Existenz einer Sprache voraussetzen. Nun werden die Naturwissenschaften von der Dichtung nein, nicht theologisiert. Ihr Wissen wird sprachexperimentell komplettiert.
Die schöne Klarheit, Genauigkeit und Ökonomie der Übersetzung Hanns Grössels sichert dem Buch seinen Rang scheinbar ganz mühelos auch in unserer Sprache. / Sibylle Cramer, SZ 18.6.03
INGER CHRISTENSEN: Det/Das. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel. Mit Aufsätzen von Walter Baumgartner, Bernhard Glienke und Gert Kreutzer. Kleinheinrich Verlag, Münster 2002. 500 Seiten, 45 Euro.
Eine Prise Hemingway´scher Existenzialismus, gepaart mit Bukowski’scher Gossenprosa und Brinkmann’scher Popbegeisterung – vieles, was Wondratschek so schrieb, wirkt erstaunlich artifiziell und konstruiert. Warum auch nicht, solange ein Meisterstück der Post-Pop-Dichtung wie die Brinkmann-Hommage „Er war too much für euch Leute“ dabei herauskommt. Das Gedicht erübrigt das Schreiben einer Brinkmann Biographie, so präzise und poetisch zeichnet es den Lebens- und Leidensweg des Lyrikers nach. Heute allerdings riecht das alles zu sehr nach 70er Jahre Muff. Dennoch ein interessantes Zeitdokument. Was macht Wondratschek eigentlich heute so? / Sascha Seiler, titel -Magazin
Wolf Wondratschek – Gedichte/Lieder
Zweitausendeins 2003.
Broschiert. 12,90 Euro
/ 8.6.03
Am 7. Juni vor 160 Jahren starb in Tübingen der Dichter Friedrich Hölderlin . Hier 1. ein hübscher Greifswald-Fund der Lyrikerin Silke Peters (mitgeteilt am 11.11.2001):
gerade lese ich einen meiner Lieblingsweisen, Karl Kerènyi, und habe einen Greifswaldfund. Er hat in den zwanziger Jahren in Greifswald studiert und verbindet den Hyperion mit der Stadt: „Die erste wahre Lust an einer fremden Sprache entsprang aus dem Italienischen, aus Leopardi-Gedichten, so intensiv, wie erst viel später, in der Greifswalder Zeit, aus dem lauten Lesen von Hölderlins Hyperion oder der Elegie Stutgard .“
2. zwei der Tübinger „Turm“-Gedichte – Werke eines anerkannt Geisteskranken:
Auf den Tod eines Kindes
Die Schönheit ist den Kindern eigen,
Ist Gottes Ebenbild vieleicht, –
Ihr Eigentum ist Ruh und Schweigen,
Das Engeln auch zum Lob gereicht.
StA, Band 2, Seite 264.
Der Spaziergang
Ihr Wälder schön an der Seite,
Am grünen Abhang gemahlt,
Wo ich umher mich leite,
Durch süße Ruhe bezahlt
Für jeden Stachel im Herzen,
Wenn dunkel mir ist der Sinn,
Den Kunst und Sinnen hat Schmerzen
Gekostet von Anbeginn.
Ihr lieblichen Bilder im Thale,
Zum Beispiel Gärten und Raum,
Und dann der Steg der schmale,
Der Bach zu sehen kaum,
Wie schön aus heiterer Ferne
Glänzt Einem das herrliche Bild
Der Landschaft, die ich gerne
Besuch‘ in Witterung mild.
Die Gottheit freundlich geleitet
Uns erstlich mit Blau,
Hernach mit Wolken bereitet,
Gebildet wölbig und grau,
Mit sengenden Blizen und Rollen
Des Donners, mit Reiz des Gefilds,
Mit Schönheit, die gequollen
Vom Quell ursprünglichen Bilds.
StA, Band 2, Seite 276.
/ 7.6.03
Celans Haltung zum Verstehensproblem, soweit sich diese aus verstreut vorliegenden Äusserungen rekonstruieren lässt, war so widersprüchlich wie sein schwach hoffnungsvolles und gleichzeitig reserviertes Verhältnis zu seinem Publikum. 1958 verglich er den Kommunikationsprozess mit dem Aufgeben einer Flaschenpost. 1960, in der Büchnerpreis-Rede, beschrieb er beiläufig ein intuitives Verstehen, das dann entstehen könne, wenn man einen Menschen sprechen sehe und ihm aufmerksam zuhöre, ohne dass man indes wisse, wovon die Rede sei. Ein intuitives Erfühlen, wo ein anderer stehe, in welcher Richtung er sich bewege, ermöglicht durch einfache, unbefangene Aufmerksamkeit, allerdings auch eine unmittelbare Präsenz des Sprechers voraussetzend. / Dietrich Seybold, NZZ 7.6.03
die gemeinsam oft ein Graus sind, finden hier so phantasievoll und vergnüglich zueinander wie vielleicht nicht mehr seit dem späten Ernst Jandl. Mit „Diagonal“ spielen Yoko Tawada und Aki Takase ein großartiges Match in dessen Liga. / Thomas David, FAZ 7.6.03
14 unveröffentlichte Bücher hat ein Mann aus Greiz, Thüringen, bis zur Wende geschrieben. Das entnehme ich**) einem kurzen Zeitungsartikel über unbekannte DDR-Schriftsteller, über Literaten, die weder in den Westen gingen noch im Osten gefördert wurden. …
„Welches Buch empfehlen Sie mir. Welches ist Ihnen das Liebste?“
Er greift aus dem Haufen der Bücher, deren Kanten über die Tischbegrenzung ragen, zwei heraus, zwei Gedichtbände, Ullmann ist Lyriker, und seine liebsten Bände heißen Erdlicht und Die Sonne taucht im Wassertropfen. Im ersten Buch sind seine besten Gedichte aus 30 Jahren versammelt, im zweiten Kindergedichte.
Ich schlage Erdlicht auf. NEHMT UNS NICHT DIE HOFFNUNG/ diese ungewissheit/die noch halt gibt/legt uns nicht den/horizont/um/den hals. …
1976 wurde Biermann ausgebürgert. Und der stille Dichter Ullmann schickte umgehend Protestresolutionen an die staatlichen Organe. Das ist nicht weiter bekannt, dass Leute wie er so etwas getan haben, bekannt ist es nur von Stefan Heym und Christa Wolf und all den anderen Berlinern. Ullmann hatte keinen Kontakt zu ihnen. „Wir waren doch in der Provinz hier.“ Von da aus kam man nicht in den Westen, sondern geradewegs in den Knast.
**) auf der Website nicht genannter Autor/ Autorin, SZ 7.6.03
In knapp fünf Jahren hat Soyfer ein Werk von fast tausend Seiten geschrieben, vieles davon für den täglichen politischen Kampf oder um Geld zu verdienen, vieles davon halbfertig, kaum überarbeitet, bedrängt von der Zensur oder von ungeduldigen Schauspielern, die auf ihre Texte warteten. Und trotzdem sind darunter einige der bemerkenswertesten Theaterstücke, der beklemmendsten Gedichte, die die österreichische Literatur der dreissiger Jahre vorzuweisen hat, ausserdem das Fragment eines erstaunlichen Romans, dessen literarische Bedeutung erst entdeckt werden muss. Eine Gelegenheit dazu bietet die kürzlich erschienene neue Gesamtausgabe der Werke und Briefe Soyfers.
Jura Soyfer: Werkausgabe. 4 Bände. Herausgegeben von Horst Jarka. Deuticke-Verlag, Wien. 1270 S., Fr. 117.-.
/ Günther Stocker, NZZ 7.6.03
Während der Herrschaft Pinochets in Chile setzte man auf Gabriela Mistral, Lateinamerikas erste Trägerin des Nobelpreises, als Gegengewicht zu Pablo Neruda. So zierte ihr Bildnis die höchste Banknote. Jetzt diskutiert Chile die Frage, ob die „Mutter der Nation“ lesbisch war. / NYT *) 4.6.03
die gütig-paranoide, ist seine Heimat, Litauisch seine Muttersprache. Eine kleine, alte, dem Sanskrit sehr nahe Sprache, die weiche Konsonanten und klingende Vokale, dazu eine Vielzahl von Flexionsformen kennt und überdies reich ist an Wörtern zum Beschreiben von Wahrnehmungen. Eine schöne Sprache für Poeten. Antanas Jonynas macht Verse mit reichen Assonanzen, in rhythmischem Fluss, teilweise mit Reim. «Die Seele des Gedichts wohnt im Rhythmus», sagt er. / St. Galler Tagblatt 4.6.03
fordern wir. Und da – zugreifen! – ist sie:
Zwischen den Zeilen. Eine Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik. Nr. 19, 2002. 151 S., Fr. 20.-. Zwischen den Zeilen. Nr. 20, 2003. Hefte 1-19 als PDF- Dateien auf CD-ROM mit Index, Fr. 40.-. (Urs Engeler, Editor, Dorfstr. 33, 4057 Basel)
besprochen von Sibylle Birrer, NZZ 4.6.03:
Zuweilen erweisen sich die poetischen Standbilder im Nachhinein als Ausblicke: So bündelten sich die 1992 im ersten Heft veröffentlichten Gedichte von Durs Grünbein im Folgejahr zum preisgekrönten «Falten und Fallen», und bereits 1994 eilte Marcel Beyer mit einer Handvoll Gedichte seinem lyrischen Début «Falsches Futter» von 1997 voraus. Die Capriccios von Birgit Kempker hingegen, die 1995 als «Hülle 2» in der Zeitschrift zu lesen waren, wurden 1999 in der Ausgabe «Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag» verboten. So birgt mittlerweile «Hülle 2» als poetisches Vor- zum gerichtlichen Nachspiel eine subversive Note.
(L&P blickt neidisch auf die Schweiz: Basel & Zürich, wer reicht das Wasser?)
Bei Hilbig steht allerdings zu vermuten, dass die Lesung der hochdeutschen Texte in sächsischem Gesang Methode hat, denn auf diese Weise verschiebt sich der Schwerpunkt der Sätze. Sie werden an Stellen mit Bedeutung aufgeladen, wo man es nicht erwartet, besonders zum Satzende hin entwickelt sich häufig ein kleines Crescendo. Dadurch werden Betonungen gesetzt, die semantisch widersinnig erscheinen. Diese konstante Irritation entwickelt jedoch recht schnell eine Sogkraft, die gespannt hinhorchen lässt und die der Irritation, von der Hilbigs Erzählungen und Gedichte oft handeln, entgegenkommt. / Tobias Lehmkuhl, SZ 2.6.03
WOLFGANG HILBIG: Der Geruch der Bücher. Prosa und Gedichte. Gelesen vom Autor. Der Audio Verlag, Berlin 2003. 1 CD, 78 Minuten, 14,95 Euro.
2. – 3. (-) 27 Punkte
FERNANDO PESSOA : Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares
Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel.
Ammann Verlag, Euro 49,90
‚Wir alle, die wir träumen und denken, sind Buchhalter oder Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft …. Wir führen Buch und erleiden Verluste, wir summieren und gehen dahin; wir schließen die Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.‘
Persönliche Empfehlung von Andreas Isenschmid (Zürich)
PHILIPPE JACCOTTET: Der Unwissende
Gedichte und Prosa 1946 – 1998
Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp, Sander Ort, Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.
Carl Hanser Verlag, Euro 17,90
Singt Pommern? Jedenfalls machten die beiden letzten Wochenenden kurzzeitig und im Stillen die Randprovinz Vorpommern zu einem der Zentren der jungen deutschsprachigen Lyrik. Am letzten Maisonntag gab es in Saßnitz auf Rügen eine „Lange Nacht der Lyrik“, die – organisiert von der auf Rügen geborenen Berliner Autorin Anna Hoffmann – zehn junge Berliner AutorInnen und als special guest eine Greifswalderin zusammenführte. (Mehr hier ). Mit Geburtsjahrgängen zwischen 1966 und 1978 also die Vorstellung einer, wie man so sagt, nachrückenden Autorengeneration, die von der Öffentlichkeit bislang wenig beachtet wird, wiewohl etliche (ich nenne nur Björn Kuhligk und Ron Winkler) sich in der Szene längst einen Namen gemacht haben. Die Gelegenheit, sich mit den Kommenden bekannt zu machen, nutzten leider weder die eingeladenen Medien noch die Rügener (ein kleines Häuflein ausgenommen).
Das gleiche Bild ein Wochenende drauf in der selbsternannten Geistesmetropole Greifswald. Im Literaturzentrum im Koeppenhaus lasen in einer Veranstaltungsreihe Blickwinkelimport die jungen Autoren Johanna Schwedes und Alexander Korund (beide waren oder sind Studenten am Literaturinstitut Leipzig) vor knapp 20 und anderntags einer der übriggebliebenen Brechtschüler, Martin Pohl (Jahrgang 1930), sowie der in Belgien geborene, jetzt in Berlin lebende Lyriker HEL – vor nochmal etwa halbiertem Publikum. Wo war das seit einem halben Jahr in Greifswald legendäre junge Stammpublikum, das man sonst schon oft auf Steh- oder Fußbodenplätzen sah? Keine Neugier auf Kommendes? Sind sie jetzt traurig, weil sie den alten Dichter verpaßt haben, der erzählte, daß ihm Brecht zu seinem ersten Versuch mit einem Sonett sagte: Das habe zwar 14 Zeilen, sei aber kein Sonett? Und der dann Sonette und Gaselen las, die das kleine Publikum in ihren Bann zogen, gar nicht als Formspiele, sondern als authentische Stimme eines Zeitzeugen. Wo waren die Träger des Greifswalder Kulturlebens, das sich für so dynamisch und hoffnungsvoll hält, die Vertreter der ach so reichen, so blühenden Zeitschriften, Vereine und Institutionen? Wo die jungen Leute, die heimlich selber schreiben und hier hätten lernen können? (Ich frage nicht nach den Germanisten und ihren StudentInnen, denn die gehen bekanntlich nicht zu Lesungen, weil sie Sekundärliteratur lesen müssen). So blieb eine kleine Szene unter sich, Greifswald wie Saßnitz.
Der Sonntag sah dann eine Premiere. Im Geburtshaus Hans Falladas fand sich ein knappes Dutzend um ein auf provisorischen Tischen angerichtetes reiches Brunch versammelt, junge Greifswalder und Stralsunder Autoren mit ihren Gästen, die ein paar Stunden miteinander aßen und sprachen. Die erste Veranstaltung in den Räumen der Literaturgesellschaft pom-lit.de. Dem wünscht Fortsetzung
Michael Gratz
Martin Pohl: Nur ein Erinnern traumumflort. Ghaselen, Sonette und andere Gedichte. Neubrandenburg: federchen Verlag, 2002
HEL: Klompenmeistersang. Von der fuchsig dullen Griet, ihrem fahrenden Spinnhaus und ihren zwotausend Mannstücken. Berlin: SuKuLTuR, 2001
Hier gibts Fotos der Beiden
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