Durch ihre Literarisierung verlor die Dichtung aber auch ihre Eindeutigkeit. Nicht nur weil, wie Plato bemängelte, alles Schriftliche offen interpretierbar war, da es bloss Worte, nicht aber Intonation, Mimik und Gestik zu registrieren vermochte, die bestimmten, wie etwas wirklich gemeint war. Nein: Zusätzlich zu diesen sich auftuenden Ambiguitäten büsste die Poesie auch an allgemeiner Verständlichkeit und Zugänglichkeit ein. Wo die orale Dichtung bei ihrem epischen Extemporieren noch auf die kurze Aufmerksamkeitsspanne eines zuhörenden Publikums durch kurze Informationseinheiten, allgemein gültige Formeln und dauerndes Wiederholen Rücksicht genommen hatte, hatte die Poesie es nun mit Lesern zu tun. Für die ein Gedicht überblickbar wurde. Beliebig oft lesbar. So entstand der «Text» – sein immer dichter geflochtenes Gewebe, das erst nach mehreren Malen durchschaubar wurde.
Aus der Eröffnungsrede, die der österreichische Schriftsteller Raoul Schrott (geb. 1964) vergangene Woche am «34th Poetry International Festival » in Rotterdam gehalten hat. / NZZ 28.6.03
«Vor mir Krakau im grauen Talgrund. / Schwalben tragen die Stadt auf langen Zöpfen / aus Luft. Krähen in schwarzen Pelerinen / behüten sie», heisst es in einem Gedicht von Adam Zagajewski. Zwanzig Jahre lang hat er einst in dieser Stadt gelebt – vor einigen Monaten ist er aus dem Pariser Exil zurückgekehrt, um es noch einmal zu versuchen. Als wären zwei Nobelpreisträger, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska, für eine mittelgrosse Stadt nicht genug, hat auch er (der ebenfalls bereits als Nobelpreis-Kandidat gehandelt wird) sich den Krakauer Dichtern angeschlossen, was der Stadt endgültig den Nimbus einer Literatenhochburg verliehen hat. / Marta Kijowska, NZZ 27.6.03
Beim Klagenfurter Wettlesen erhielt der in Prag geborene, in Deutschland lebende iranische Lyriker Farhad Showghi den 3sat-Preis.
/ 27.6.03
Das Totalitätsdenken war die radikalste Abstraktion der konkreten Welt und zugleich die tiefste Verbeugung vor der Realität, die dem menschlichen Denken je möglich war. An einer Stelle schrieb Hegel: „grabe einen Toten aus und befrage die Made, die an seinem Fleische nagt: Was der Pfaff am Grabe versprochen, hat sie eingelöst – das Leben nach dem Tode. Wäre sie begabt zu Glück, sie wäre dankbarer Christ. Wäre sie Mensch, sie wollte Papst werden. Wäre sie Philosoph, sie würde Tinte scheißen, die vom Tod als einem Festmahl kündet. Der Mensch, der Christ, der Philosoph aber, sie alle sind im Gegensatz zu unserer Made todunglücklich: weil sie leben und die Glückseligkeit erst im Tode erwarten. Sie sind unglücklich, weil sie der Tote sein wollen und nicht die Made!“
In diesen Zeilen ist Größe und Tragik des Totalitätsdenkens in einem radikalen Bild verdichtet (weshalb man Hegel als einen der größten deutschen Dichter lesen sollte)… / Robert Menasse, SZ 27.6.03
Am Sonntag wurden in Zug/ Schweiz neben dem Zuger Übersetzerpreis (Susanne Langes neue Don-Quijote-Übersetzung) zwei mit je 10’000 Franken dotierte Anerkennungspreise vergeben. Sie gingen an Ralph Dutli (russische Lyrik) und Karl-Ludwig Wetzig (isländische Literatur). Das Zuger Übersetzer-Stipendium ist der höchstdotierte Übersetzerpreis im deutschen Sprachraum. Er wird von Stadt und Kanton Zug, von Pro Helvetia und Gönnern unterstützt. / 26.6.03
Vor zwanzig Jahren, als Friederike Mayröcker noch gar nicht so alt war, schrieb sie in der halluzinatorischen Prosa des Bandes «Reise durch die Nacht» von ihrer Vermutung oder Hoffnung, «dass die Assoziationskraft mit zunehmendem Alter eher zu- als abnimmt». Jetzt, mit bald 80 Jahren, hat sie das wieder einmal bestätigt. Denn eines der Wunder von Mayröckers Poesie liegt in der Kunst der Assoziation, durch die sie der Sprache Verblüffendes entlockt, was den Leser zwar verstören, aber ihm seinerseits auf assoziative Sprünge helfen kann. Ein weiteres Mirakel ist ihr beharrlich weltabgewandtes Wandeln in einem privaten Zettelhain, jetzt genauso wie schon in den Jahrzehnten der allgemeinen ideologischen Schaustellerei. Doch bei aller Freiheit von Ideologie ist in ihren Gedichten erstaunlich viel von der Wirklichkeit die Rede, vom häuslichen Alltag in ihrem «Elendsquartier», vom Hier und Jetzt der körperlichen Hinfälligkeit, freilich nie vom letzten Schrei der Weltgeschichte. …
Als Jandl im Sterben liegt, Anfang Juni 2000, schreibt Mayröcker: «ach ich KLEBE an diesem / Leben an diesem LEBENDGEDICHT». Dann folgt die besagte Lücke von vier Monaten. Danach geistert «ER» noch deutlicher als früher durch ihre Verse, entstehen noch mehr Gedichte in seinem Angedenken, wie diese private Erinnerung an ein Weltereignis:
Sonnenfinsternis ’99 / Bad Ischl
für Ernst Jandl
erst wieder in 700 Jahren sagt ER 1 Jahrhundert Ereignis sagt ER solltest du nicht versäumen sagt ER auf dem Balkon ER setzt die Spezialbrille auf verkrieche mich mit dem Hündchen in der Schreibtischnische die Vögel verstummen – 1 Jahr danach SEINE ewige Finsternis
/ Franz Haas, NZZ 26.6.03
Friederike Mayröcker: Mein Arbeitstirol. Gedichte 1996-2001. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 2003. 215 S., Fr. 34.60.
Friederike Mayröcker: Die kommunizierenden Gefässe. Edition Suhrkamp 2444, Frankfurt am Main 2003. 90 S., Fr. 12.50.
Grünbeins Essays leben, ähnlich wie die Lyrik, die dem Autor früh Erfolg und Ruhm einbrachte, von der Genauigkeit der Wahrnehmung, von der Macht der Evokation und der Suggestion. Im Idealfall entstehen gedankliche Verdichtungen, die den Vergleich mit den Gedichten nicht zu scheuen brauchen. «Warum schriftlos leben» ist eine subtile Verteidigung der Poesie und zugleich eine Liebeserklärung an die Sprache, deren «isolierte Klugheit» den Dichter auf «schönste Abwege» bringt. Die Lektüre dieser Essays verspricht nicht mehr und nicht weniger als «Betonte Zeit», wie es der gleichnamige Essay zeigt, der mit einem versteckten Hinweis auf Adorno und seine «Noten zur Literatur» den gemeinsamen Ursprung von Musik und Dichtung aus dem Geiste des Mythos zelebriert. / Michael Braun, NZZ 26.6.03
Durs Grünbein: Warum schriftlos leben. Aufsätze. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2003. 122 S., Fr. 14.20.
Diese Ausgabe macht dem deutschen Leser zum ersten Mal das surrealistische Frühwerk des französischen Dichters in seiner Gänze bekannt, das bisher nur in Einzelübersetzungen verfügbar war. Merkwürdig an der lesbaren Übersetzung ist nur, daß statt eines Übersetzers eine „Redaktion der Übersetzung“ genant wird, der auch die Verlegerin angehört. Ärgerlich ist aber das Nachwort Horst Wernickes, das den Surrealismus zum Feinbild hat und vor allen Dingen zeigen will, wie früh Char die wahre Natur dieser Bewegung erkannte und mit welcher Konsequenz er daraufhin sein eignes Werk korrigierte. Beweise? Zuerst zieht Wernicke Chars Lettre hors commerce von 1947 heran. Es ist der Antwortbrief Chars an André Breton , der ihn zu einer Teilnahme an der Ausstellung „Le Surréalisme en 1947“ (Paris, Galerie Maeght) eingeladen hatte. Er wünscht darin dem Freund, daß er sein Ziel erreichen möge, schildert dann aber seine eigene ungewisse Position: „Ma part la plus active est devenue… l’absence.“ Und erklärt im Hinblick auf die Ausstellung: „Je ne peux pas aimer deux fois le même objet.“ Er stellt Breton anheim, ihn mit Zeugnissen seiner surrealistischen Periode („qui je fus“) in der Ausstellung zu präsentieren. Er sei auch heute noch bereit, sich mit Liebe zu diesem großen Augenblick in seinem Leben zu bekennen. „Wir haben es verstanden und werden es immer verstehen, uns Seite an Seite wiederzufinden in dieser maßlosen und wesentlichen Sekunde.“
Richard Anders, Berlin
René Char: Der herrenlose Hammer / Erste Mühle. Zweisprachige Ausgabe. Mit einem Nachwort von Horst Wernicke. Verlag Jutta Leguell. Stuttgart 2002
/ 26.6.03
| Una gota de luz cae en el mar más oscuro, y el mar se vuelve oscuro, mar, simplemente. Así el amor |
Ein Tropfen Licht Fällt in das dunkelste Meer, und das Meer wird wieder dunkel, Meer, nichts weiter. So die Liebe |
Guillermo Boido
aus:
Poesía.com
Die irakische Lyrikerin Amal Al-Jubouri , Herausgeberin der Zeitschrift Diwan, kehrt heute nach 6jährigem Exil nach Bagdad zurück, berichtet Die Welt am 20.6.03:
Zwischendurch will Amal Al-Jubouri immer wieder nach Berlin zurückkehren, um die von ihr mitverkörperte Brücke zwischen beiden Ländern nicht abzubrechen. Längst fühlt sie sich in beiden Kulturen beheimatet. „Berlin und Bagdad haben ähnliche Schicksale. Beide kennen den Krieg und das Leid, das die Menschen ertragen mussten, sehr gut“, sagt sie.
In einem ihrer Gedichte schreibt die Autorin, angelehnt an die berühmte „Todesfuge“ vom Paul Celan: „Die Angst ist ein Meister aus meinem Land, der Tod war ein Meister aus deinem Land.“ Im Herbst erscheint ihr neues Buch „So viel Euphrat zwischen uns“ mit Gedichten in deutscher Sprache.
Eine rebellisch-poetische Bootsfahrt bei Leipzig vereinte 1968 junge Autoren wie Wolfgang Hilbig, Gert Neumann, Andreas Reimann und Kristian Pech, berichtet die Leipziger Volkszeitung vom 20.6.03:
Doch das rebellische Projekt beschäftigt Grüneberger seit langem, seit September 2001 intensiv. Ergebnis ist das mit Gerhard Pötzsch kreierte Feature „Das sächsische Meer. Schriftsteller und der Prager Frühling in Leipzig“, das nun veröffentlicht wird. Vorgestellt wird die Produktion an diesem Sonnabend nachmittag – natürlich während einer Bootsfahrt. Diesmal auf dem Cospudener See. Abends sind die Autoren und Zuschauer von damals (Bernd-Lutz Lange etwa) bei der „7. Leipziger Sommernacht der Poesie“ im Haus des Buches live zu erleben.
Bootsfahrt & Sommernacht der Poesie: 21.6.03 (16 & 20 Uhr), Bootskarten unter Tel.: 0341/1 23 53 91; MDR Kultur sendet das Feature am 25. Juni 2003(22 Uhr); CD/Buch mit Feature, Fotos & Grafiken gibt’s ab morgen; Internetinfos unter: http://www.stauseelesung.de/
Über eine Erich-Arendt-Ausstellung berichtet die FR vom 20.6.03:
„Erich Arendt: Menschen sind Worttiere. Zum 100. Geburtstag“. Peter-Huchel-Haus, Wilhelmshorst bei Potsdam bis 29. Juni. Danach wandert die Ausstellung nach Berlin.
Im St. Galler Tagblatt vom 20.6.03 ein lauter Stoßseufzer des Verlegers und Herausgebers der Schweizer Literaturzeitschrift orte, Werner Bucher, betreffend eingesandte Manuskripte (Schreibanfänger: Lesen!). Dann wendet er sich Erfreulicherem zu: dem Dichter Christian Saalberg . Hier der Schluß:
Mir aber bleibt nur zu sagen, ich werde weiterhin Einsendungen öffnen und mir dabei jedesmal wünschen, wieder einen Dichter, eine Dichterin vom Formate Saalbergs zu entdecken, der sagt «die Gewehre haben uns verdorben» und von dem unlängst jemand schrieb, «indem er den Schrecken der Auslöschung und die Trauer darüber in Bilder bannt, erfindet er eine Transparenz, die das Vergessene und die verbliebene Schönheit aufhellt». Mehr bleibt im Moment über seine Gedichte nicht zu sagen, meine ich. Lieber zitiere ich meinem Verleger- und Dichterfreund Beat Brechbühl, der im Gedicht «Verleger sein» wegen der unermesslichen Gedichtproduktion auch an die armen Briefträger und -trägerinnen denkt. «Im Mai da knospen die Dichterinnen. / Im Mai da schwellen die Dichter. / Laub und Gräser werden davon ganz dunkelblau, / und ich ganz rot, / dann gelb, / und der Postbote, beim Hertragen noch hellgrün, / sinkt beim Wegtragen / aschefahl und lungehustend / in die leere Landschaft.»
denen Karol Wojtylas frühere, oft hermetische Poesie voller komplizierter Gedanken und philosophischer Anspielungen bekannt sei, so der «Newsweek»-Reporter Szymon Holownia, müssten sofort erkennen, dass sie diesmal etwas sehr Reines und Bewegendes in die Hände bekommen hätten: «ein literarisches Testament von Johannes Paul II. Eine kurze, sehr persönliche Geschichte über das Vergehen. Mit einer Pointe über die Hoffnung.» /Marta Kijowska, NZZ 20.6.03
Außerdem heute : Ein Gedicht der Krakauer Lyrikerin Anna Swirszczynska (1909-1984)
Manchmal muss man schon die verborgensten Winkel der poetischen Tradition ausleuchten, um sich an die Schreibvoraussetzungen unserer zeitgenössischen Dichter herantasten zu können. Auch wer als Lyriker die gesteigerte Gegenwärtigkeit des Sprechens im freien Vers erreichen will, sucht für diese halsbrecherische Art lyrischer Artistik zuverlässige Unterstützung in den Grundbüchern der Moderne. Im Fall des Lyrikers Mirko Bonné, der bislang als Autor zweier Romane auf sich aufmerksam gemacht hat, ist der literarische Schlüsseltext ein Brief des englischen Romantikers John Keats , der vermutlich im Dezember 1817 abgefasst worden ist. Dieser Brief umspielt eine ästhetische Offenbarung, die auch heute noch als schönste Beschreibung der lyrischen Disposition gelten kann. Keats spricht darin von der negative capability , also von einer „negativen Befähigung“, die eintrete, „wenn einer fähig ist, in Unsicherheiten zu sein, in Unerklärlichkeiten, in Zweifeln, ohne dem ärgerlichen Ausstrecken nach Faktum und Vernunft“. …
Jede Gedichtzeile, so Bonné in Anlehnung an Keats, soll so lange als möglich im unsicheren Neuland bleiben. In den schönen Verrätselungen von Gedichten wie „Sonja“ oder „Ode an Null“ durchmisst man dieses unbegrenzbare Terrain – ohne immer den „Helden Hibiskus“ blühen zu sehen./ Michael Braun, FR 18.6.03
Mirko Bonné: Hibiskus Code. Gedichte. DuMont Verlag, Köln 2003, 90 Seiten, 17,90 €.
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