30. Jubiläum des Slamgedichts „INFLATION“ (Mehr weiter unten)
Tom [de] Toys, 26.12.1993
INFLATION
und wieder ein gedicht
und wieder ein gedicht
und deinen lieben gott
den gibt es nicht
und wieder ein gedicht
und wieder ein gedicht
und deine seele kannst du
lange suchen
ja ich schreibe wieder
schreibe schreibe
schreibe wieder
noch eins noch eins
und noch ein gedicht
wer weint fällt
durch das geldgeschiebe
ach daß mich nichts hält
an diesem leben
bleibt im krankenordner kleben
alles sah und schrieb er auf
die wiederholung nahm so ihren lauf
und falls sich irgendwann
mal irgendwer
klammheimlich fragt
was wollte der
wiegt schon die sehnsucht
tausend bücher schwer
ach lang ists her
und immer dasselbe
künstler hatten wir genug
gegen das schwarzrotgelbe
im ei kannst du nichts machen
sie müssen dich verlachen
und rühren den brei
und führen den betrug
aus
bis ans aus bis ans
aus aus aus
laßt mich hier raus
das ende schmeckt bitter
der deutsche gewöhnt sich
an jedes gewitter
die kunst ist nicht tot
nein die kunst gabs noch nie
meine arbeit ist getan
ich kann mich besaufen
die kunst als unnützer scherz
lernt nie wirklich laufen
schön darf sie sein
dann will sie jeder kaufen
ja schön ja schön ja
schön schön schön
nur nichts bedeuten
was hinter dem schein
der spiegel spiegel
an der wand
verrät des dichters schnelle hand
könnte hilfe hoffnung
und heilung einläuten
aber nicht bei der masse
und nicht in diesem land
oh wie ich sie hasse
die dummheit läßt sich nicht häuten
hier wie überall
verläuft alles im sand
und der sand im getriebe
wird gut geschmiert
oder im museum gehäuft
der alltag gewinnt
der künstler verliert
statt liebe nur hiebe
und über diese welt
kann jeder fluchen
aber sich verpissen
das kann letztlich keiner
denn der himmel ist nicht blau
und engel nicht weiß
ich schreibe ein gedicht
über diesen affenscheiß
und noch ein gedicht
und noch ein gedicht
denn keiner wird gescheiter
bloß die spalte immer breiter
ich schreibe immer weiter
wer glaubt noch an das große licht
und durch den harnleiter
schreit mein echtes gesicht
das paradies hat erdengewicht
und die erde die ist grau
mir ist im bauch so flau
und in der birne tausend hirne
drum schreib ich noch eins
noch eins und noch eins
weiter weiter immer weiter
bis meine geduld gerissen
mein blut voller eiter
und das herz verschlissen
mein mund ist schon lange
ein scheiterhaufen
und trotzdem sieht keiner
in den bildern den schmerz
ich sage dir heute
wie gestern spiel mit
oder flieh
flieh
flieh
das rückgrat bricht
nicht
die wirbel werden
langsam aber sicher
weich wie die
knie
und kopf hoch
junge
und
danke
JUBILÄUMSSEITE FÜR DIE „INFLATION“ MIT KOMPLETTER DOKU & HINTERGRUND @ WWW.POETRYCLIP.DE = https://quantenlyrik.jimdofree.com/live/2023/
WIEDERVERÖFFENTLICHUNG DER „INFLATION“ IM GEDICHTBAND „AM ENDE LIEGEN ALLE FEINDE NEBENEINANDER“ @ WWW.GRABLYRIK.DE (Playlist des Buches mit ausgewählten Rezitationen des Autors)
[De] Toys, Dec. 26, 1993
(adaptation May 16-17, 2022)
INFLATION
another poem and
another poetic line
i tell you the truth
there is nothing divine
another poem and
another poetic line
but searching your soul
will be never fine
yeah i do write again
and again and again
i write again one
poem more and
more one more
who cries will fall thru
smuggling cracks
oh there is nothing
to keep me alive
in the sick folder
he saw and wrote
down everything
the repetition took
by that its course
and if at some point
somebody secretly
asks what did he want
the longing weighs
a thousand books
oh well it's long ago
and always the same
enough artists have been
against the german flag
but nothing works by
sitting in the egg
they laugh at you
and stir the porridge
the scam they carry out
until the end until the
end is off off off let me
out of the bounds
the ending tastes bitter
the german gets used
to every rain shower
i tell you art isn't dead
but art has no power
so my work is done i'm
allowed to get drunk
art as an useless joke
never learns the funk
to be beautiful means
everyone pays the price
just nice so nice just
nice nice nice without
any meaning behind
the mirage the mirror
mirror on the wall
betrays the poet's
very fast finger
establishing healing
help and hope but
not in the crowd and
not in this country
oh i hate them so much
stupidity cannot be
skinned everywhere every-
thing comes to no end but
the sand in the gears is
running like clockwork
or piled in a museum
everyday life is a winner
the artist a loser gets
spanking instead of
thanking it's easy to
curse about the world
but no one can fuck
off in the very end as
the sky is not blue and
angels not white i do
write a poem about
that bunch of shit
and another poem and
another poetic line
nobody turns clever
just the crack gets
wider as ever i keep
writing who believes
still in the greatest light
and through the ureter
my real face screams
it's right that paradise
got the weight of earth
the planet is coloured grey
i feel so queasy in my belly
a thousand brains in my skull
so i write one more and
some more and some more
and more and more
until my patience is gone
my blood full of pus
and my heart worn out
my mouth has been a
pyre for a very long time
and yet nobody sees
the pain in the pictures
i tell you today play
along like yesterday
or flee
flee flee
the backbone does not
break the vertebrae
slowly but surely
become soft like
knees so
cheer up boy
and
thanx

Ivan Blatný
(geboren 21. Dezember 1919 in Brünn; gestorben 5. August 1990 in Colchester, England)
Weihnachten
Das Pferd hat leise einen weissen Luftstrauch ausgehaucht,
einen echten milchig weissen Kieselstein mit Adern,
das Ächzen einer Tür hing lange in der reinen Luft,
in den Wäldern schlief das Wild.
Ein Rabe kreiste, in der Schwärze seiner Flügel
gingen Berge, Wälder, Städte unter,
das Dunkel brach herein, und er verschwand,
zu hören war nur noch im Schnee das
Knirschen.
Aus dem Tschechischen von Felix Philipp Ingold, aus: Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 11.12.1999 Nr.289 S. 65
Adam Mickiewicz
(* 24. Dezember 1798, heute vor 225 Jahren, in Zaosie bei Nowogródek, Russisches Kaiserreich, heute Belarus; † 26. November 1855 in Konstantinopel, Osmanisches Reich)
Odessa-Sonette
Rechtfertigung
Ich sprach von Liebe zu der Menge Gleichgesinnter;
Die einen liebten mich, die andern flüsterten: o dieser Poet,
Der stets verliebt sich quält, aufs Klagen sich versteht –
Nichts anderes als das nur fühlt er und besingt er.
Nun in die reifen Jahre kommend und bewußt der Pflicht –
Warum brennt immer noch das Herz in solch kindlichen Flammen?
Will Gott, der ihm des Dichters Stimme gab, verdammen,
Den, der von sich mit Selbstbewußtsein spricht?
O Warnung voller Großmut! – Von den Geistern dann
Beseelt, ergreif Alcäus' Leier ich und werf mir um
Ursinos Mantel. Kaum daß ich begann,
Zerstreute sich die Menge. Ich, jetzt stumm,
Zerriß die Saiten, und mein Traum zerrann:
So wie der Dichter ist, ist auch sein Publikum.
Deutsch von Heinz Czechowski, aus: Adam Mickiewicz: Lyrik polnisch und deutsch. Prosa. Leipzig: Reclam, 1978, S. 85
Sonette aus Odessa, XXII
Rechtfertigung
Ich sang von Liebe zu der Menge, der's gefiel.
Ich hörte Lob, doch manche übten leis Kritik:
"Ach, der Poet, um Liebe mit sich selbst im Krieg:
Nichts andres fühlt er, sah noch nie ein andres Ziel.
Schon in den Jahren, spitzt er immer noch den Kiel,
nur um sein kindlich, immer liebendes Geschick.
Die Götter gaben ihm die Stimme, doch sein Blick
ist eng verstellt, – und stolz zeigt er sich im Profil!"
Die eitle Warnung! Von dem stolzen Geist getrieben,
spielt ich des Alcäus Lyra, und, Ursynos
Mantel umgehangen, sang ich, bis die Mengen
auseinander liefen. Schaut, wer mir geblieben!
Ich warf die Leier wieder fort. Und was ich daraus schloß?
Daß sich nur Gleichgesinnte um den Dichter drängen.
Deutsch von ZaunköniG, aus: Adam Mickiewicz: Krim-Sonette. Burgdorf: Edition elf, 2005, S. 40
Alcäus: Antiker griechischer Dichter, um 600 v.Ch.
Ursyn: Julian Niemcewicz Ursyn, 1758-1841, polnischer Dichter
EKSKUZA
Nuciłem o miłostkach w rówienników tłumie;
Jedni mię pochwalili, a drudzy szeptali:
"Ten wieszcz kocha się tylko, męczy się i żali,
Nic innego nie czuje lub śpiewać nie umie.
W dojrzalsze wchodząc lata, przy starszym rozumie,
Czemu serce płomykiem tak dziecinnym pali?
Czyliż mu na to wieszczy głos bogowie dali,
Aby o sobie tylko w każdej nucił dumie?"
Wielkomyślna przestroga! – wnet z górnymi duchy
Alcejski chwytam bardon, i strojem Ursyna
Ledwiem zaczął przegrywać, aż cała drużyna
Rozpierzchła się, unosząc zadziwione słuchy;
Zrywam struny i w Letę ciskam bardon głuchy.
Taki wieszcz jaki słuchacz.


Heute vor zehn Jahren starb die Dichterin Helga M. Novak. Hier ein Gedicht aus dem 2013, im Jahr ihres Todes, bei Hochroth Paris erschienenen Band chaque pierre orpheline, der eine Auswahl ihrer Gedichte im Original und mit Übersetzungen ins Französische enthält. Die ersten vier Zeilen dieses Gedichts tauchen auch in ihrem autobiografischen text Vogel federlos auf, hart überblendet mit Geschichten aus den frühen 50er Jahren in Ostdeutschland.
Helga M. Novak
(Isländischer Name ab 1966: Maria Karlsdottir; * 8. September 1935 in Berlin-Köpenick; † 24. Dezember 2013 in Rüdersdorf bei Berlin)
Sommerzeit
Sommerzeit
die Hähne schrein zur selben Zeit
Winterzeit
die Sauen schrein zur selben Zeit
ach es ist alles zuschanden
die Freiheit die ich habe
ist keine
ich werde verrückt
weil ich es bin
und ich werde rasend
von meinen Rasereien
ach es ist alles zuschanden
Sommerzeit
ich werde den Mund nochmal vollnehmen
Winterzeit
den Mund voller Sand
warum entdeckt denn keiner
die Schönheit meines Verfalls?
heure d'été
heure d'été
heure du cri des coqs
heure d'hiver
heure du cri des truies
hélas tout est gâché
la liberté qui est mienne
n'en est pas une
ça me rend folle
parce que je le suis
et ça me rend furieuse
toutes ces fureurs que j'ai
hélas tout est gâché
heure d'été
je vais encore ouvrir la gueule
heure d'hiver
la gueule pleine de sable
pourquoi donc nul ne découvre
la beauté de ma déchéance ?
Aus dem Deutschen ins Französische übersetzt von Élisabeth Willenz, aus: Helga M. Novak: chaque pierre orpheline. hochroth Paris 2013, S. 12. Die Anthologie wurde zusammengestellt von Dagmara Kraus, die Gedichte stammen aus dem Band solange noch Liebesbriefe eintreffen, Schöffling 1997, 1999, 2005.
Kenneth Rexroth
(* 22. Dezember 1905 in South Bend, Indiana; † 6. Juni 1982 in Santa Barbara, Kalifornien)
Between Two Wars
Remember that breakfast one November —
Cold black grapes smelling faintly
Of the cork they were packed in.
Hard rolls with hot, white flesh,
And thick, honey sweetened chocolate?
And the parties at night; the gin and the tangos?
The torn hair nets, the lost cuff links?
Where have they all gone to,
The beautiful girls, the abandoned hours?
They said we were lost, mad and immoral,
And interfered with the plans of the management.
And today, millions and millions, shut alive
in the coffins of circumstance,
Beat on the buried lids,
Huddled in the cellars of ruins, and quarrel
Over their own fragmented flesh.
ERINNERST DU DICH...
Erinnerst du dich an jenes Frühstück im November –
Kühle, schwarze Trauben, die schwach
Nach dem Kork ihrer Verpackung rochen,
Getoastetes Brot mit weißem Fleisch
Und dicke, honiggesüßte Schokolade?
Und die Parties nachts; der Gin und die Tangos?
Die zerrissenen Schleier, die Türklinken,
die nicht wiederzufinden waren?
Wo gingen sie alle hin,
Die schönen Mädchen, die einsamen Stunden?
Man sagte, wir seien verloren, unmoralisch, verrückt,
Und kam mit Wirtschaftsplänen dazwischen,
Und heute schlagen Millionen,
Die in den Sarg der Verhältnisse eingesperrt sind,
Gegen die unter Erde vergrabenen Stirnen,
Drängen sich in verfallenen Kellern und hadern
Über ihr eignes, in Fetzen zerrissenes Fleisch.
Deutsch von Kurt Heinrich Hansen, aus: Gedichte aus der Neuen Welt. Amerikanische Lyrik seit 1910. Eingeleitet und übertragen von Kurt Heinrich Hansen. München: Piper, 1956, S. 52
Zeit für etwas Weihnachtsstimmung (oder war es Ostern? Macht nichts.) Hier ein anonymes Gedicht aus dem französischen Mittelalter, mehr als 700 Jahre alt. Wirklich!
Großen Aufruhr machten
zwei Fürze, die eine Maus
in Salz einlegten.
Zwei Öfen fielen herab,
und zwei Säue sangen
im Innern eines Fasses.
Es sprachen viel von dem und jener
zwei Mäuse, die Reims
und Paris auf einem Pfahl wegtrugen,
so dass Ostern hinter Weihnachten
laut deswegen weinte.
Grant noise faisoient
Dui pet qui metoient
Une suris en sel.
Dui four en tomboient;
Deus truies chantoient
Parmi un tynel.
Molt parloient d'un et d'el
Deus suris qui emportoient
Rains et Paris sor un pel,
Si que forment em plouroient
Pasques derierre Noel.
Die deutsche Version ist von Ralph Dutli, der offenbar als erster diesen Schatz absurder altfranzösischer Poesie ins Deutsche trug. Das Gedicht stammt aus einem Manuskript aus dem 13. Jahrhundert aus der Stadt Arras in Nordfrankreich. „Fatrasien-Labor“ nennt Dutli sie in seinem Nachwort, das betreffende Kapitel trägt den Titel „Arras oder die Neuerfindung der Poesie“. Über die Form der Fatrasie erfahren wir, dass es elfzeilige Gedichte sind („Die Zahl elf ist konstitutiv. Sie bedeutet mehr als zwei Handvoll und weniger als ein Dutzend.“). Die ersten 6 Verse haben 5 Silben und die letzten 5 haben 7 Silben. Zwei Reime durchziehen den Elfzeiler nach einem festen Schema: aabaab / babab. Lesen Sie mal das Reimschema laut: a-a-b a-a-b – babab!
Verständlicherweise kommt die deutsche Fassung ohne Reim und strenges Silbenmaß. Um dem Schema genugzutun, müsste man schon selbsteigene Fatrasien schreiben (hat es in Deutschland schon jemand versucht? Wissenslücke!). Knapp und paradox (also poetisch) ist sie trotzdem.
Quelle der Texte: Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Göttingen: Wallstein, 2010, S. 45.
Julius Wilhelm Zincgref
(* 3. Juni 1591 in Heidelberg; † 12. November 1635 in St. Goar)
Liedt
[gekürzt]
MEin feines Lieb ist fern von mir,
Ich hat mit jhr sehr kurtze frewdt,
Sehr kurtze frewdt hat ich mit jhr,
Das macht mir desto grösser leidt,
Mein Tag bring ich mit seuftzen zu,
Mit lauter Vnruh meine Ruh:
Mein Hertz hat sie genommen mit,
Es halff kein Klag, es halff kein Bitt.
[...]
Ach liebstes Lieb, kehrt wieder vmb,
Kehrt vmb, ach liebstes Liebelein,
Eh dann ich gantz vnd gar vmbkumb,
Vnd gebt mir nur ein Zeichen klein,
Kan es nit mit dem Leibe sein,
So last es doch ein Schreiben sein,
Hab ich so vil genad bey euch,
So frag ich nach keim Königreich.
Aus: Auserlesene Gedichte Deutscher Poeten gesammelt von Julius Wilhelm Zinkgref, 1624 (= Neudrucke deutscher Litteraturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts, Band 15), neu herausgegeben von Wilhelm Braune, Halle (Saale): Niemeyer, 1879, S. 21f
Mehr im Lyrikwiki
Einmal noch Rumi für den 750. Todestag, der vorgestern war. Das wäre für jedes Vierteljahrtausend eins. Heute ein Auszug aus der großen Dichtung aus 25000 Doppelversen, Masnawi. Aus Buch IV die (Doppel-) Verse 2245 bis 2265.
Die Geschichte vom gefangenen Vogel, der Folgendes riet: »Bereue nichts Vergangenes, kümmere dich um die jetzigen Bedürfnisse und verbring deine Tage nicht mit Reue!«
Mit List und Falle fing ein Mann 'nen Vogel,
der Vogel sprach zu ihm: »Oh edler Meister,
wie viele Ochsen aßt du schon und Schafe,
wie oft schon hast du ein Kamel geopfert;
nie in der Welt wurdst du davon je satt,
und auch von meinen Gliedern wirst du's nie.
Befrei mich, dass ich dir drei Ratschläg gebe,
dann weißt du, ob ich klug bin oder dumm.
Den ersten geb ich dir auf deiner Hand,
den zweiten dann auf deinem Lehmdach oben,
den dritten Rat geb ich dir auf dem Baum;
durch diese Ratschläg wirst du glücklich werden.
Der Rat auf deiner Hand ist dieses Wort:
›Glaub keinem, wenn er dir mit Unsinn kommt!‹«
Kaum hatt' er auf der Hand den Rat gegeben,
war er schon frei, flog auf die Mauer und
sprach: »Zweitens: Traure nie Vergangnem nach!
Bedaure nicht, was dir entgangen ist!«
Und dann: »In meinem Leib versteckt ist eine
sehr rare Perle, die zehn Dirham wiegt;
und diese Perle war, so wahr du lebst,
dein großes Glück und jenes deiner Kinder,
nicht ihresgleichen hat sie auf der Welt,
doch du hast sie verpasst, hast Pech gehabt.«
So, wie 'ne Frau bei der Geburt laut klagt,
geriet der Meister in ein lautes Jammern.
Der Vogel sprach: »Hab ich dir nicht geraten,
all dem, was gestern war, nicht nachzutrauern?
Was grämst du dich dann wegen dem Vergangnen?
Begriffst du nicht den Rat? Bist du wohl taub?
Den zweiten Rat gab ich dir, dass du nie
vom Weg abkommst und jeden Unsinn glaubst.
Drei Dirham wieg ich selber nicht, du Löwe,
wie trüg ich da zehn Dirham in mir drin?«
Der Meister kam erneut zu sich und sprach:
»Jetzt aber gib den dritten guten Rat!«
Er sprach: »Ja, fein genutzt hast du die Ratschläg!
Den dritten gäb ich dir doch auch vergeblich.«
Einen verschlafnen Dummkopf zu beraten,
heißt Saat ausstreun auf unfruchtbaren Boden.
Auf Dumme sollst du Weisheitssaat nicht säen,
denn nie sind ihre Risse zuzunähen.
Aus: Dschalal ad-Din Rumi: Masnawi. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band. Buch IV-VI. Aus dem Persischen von Otto Höschle. Xanten: Chalice, 2021, S. 887f.
Aus den Ghaselen des Mewlana Dschelaleddin Rumi. (Übersetzt von Friedrich Rückert)
Die Ghasele oder das Ghasel ist eine kunstvolle Gedichtform, bei der die ersten beiden Zeilen reimen und dieser eine Reim dann über das ganze Gedicht in jeder zweiten Zeile wiederholt wird (Monoreim). In der Regel baut der Dichter am Ende seinen eigenen Namen ein. Dschelaleddin, das ist Rumi. Die Reime sind oft länger als die bei uns üblichen Formen einsilbig (männlich, wie Herz/Schmerz) oder zweisilbig (weiblich, wie Liebe/Triebe). Rückert gelingt ein fünfsilbiger Reim ohne eine einzige Wiederholung: Frage, wo ist er? / Tage, wo ist er…
Nach welchem ich frage, wo ist er?
Den in mir ich trage, wo ist er?
Der ragende Baum der Gedanken,
An den ich nicht rage, wo ist er?
Ich frage die Hüter am Wege:
Der Schönste im Hage, wo ist er?
Ich frage die Wächter des Weinbergs:
Der Schöne der Tage, wo ist er?
Ich streiche durch Wälder und Felder:
Der Hirsch, den ich jage, wo ist er?
Ich frage den Mond und die Sonne:
Beim Sternengelage, wo ist er?
Er ist nicht bei mir; bei den andern,
Wo ist er? ich klage, wo ist er?
Dschelaleddin, wenn du ihn fandest,
Ich such' ihn, o sage, wo ist er?
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Zwiesprache mit Rumi
Kalligraphie von 1278 (5 Jahr nach Rumis Tod)
Fotos aus dem Rumimuseum und -mausoleum in Konya, Gratz

Heute vor 750 Jahren starb der islamische Mystiker und Dichter Dschalal ad-Din Rumi, der im Westen meist kurz Rumi genannt wird, im Persischen Maulawī und im Türkischen Mevlevi. Geboren wurde er nach der Überlieferung am 30. September 1207 in Balch im heutigen Afghanistan (oder in Wachsch, heute in Tadschikistan). Gestorben ist er am 17. Dezember 1273 in Konya in der heutigen Türkei.


Rumis Grab in Konya wird täglich von vielen Verehrern und Touristen besucht. Lesen können ihn die wenigsten, weil er auf Persisch schrieb.
Fotos: Gratz
Zum Anlass werde ich in den nächsten Tagen einen kleinen Rumi-Block veröffentlichen. Heute ein Gedicht aus seinem Diwan in der deutschen Fassung von Johann Christoph Bürgel, gefolgt von einem Kommentar des Herausgebers und Übersetzers.
Ist keine Flut gekommen, doch wurden wir benetzt;
Fuß lief in keine Schlinge und liegt in Fesseln jetzt.
Wir tranken keinen Tropfen und wurden doch berauscht,
wir sahen nie ein Schachbrett, und sind doch mattgesetzt.
Wir sahen nie ein Schlachtfeld und doch, wie sich im Wind
die schönen Locken lösen, sind wir versprengt, zerfetzt.
Wir sind ein Schatten jenes Idoles, ja mich dünkt,
daß uns das Bild von Götzen seit Urbeginn ergötzt.
Der Schatten scheint zu wesen und west und währt doch nicht.
So sind auch wir ein Nichts nur, den Schatten gleich geschätzt.
Diese Verse sind ein typisches Beispiel für das bei allen Mystikern so beliebte Reden in Paradoxen: Der Mystiker ertrinkt in einer Flut, die nicht die des Meeres ist, er fällt ohne Schlingen in die Fesseln mystischer Liebe, der himmlische Schachspieler setzt ihn matt ohne ein Schachbrett. Der Vergleich mit den Locken entstammt der Liebespoesie: Die Krümmungen und Brüche der Haare der Geliebten krümmen und zerbrechen, schlimmer als jede Waffe, den Liebenden. Der Liebende wie der Mystiker ist vernarrt in das schöne Idol. Beide sind Götzenanbeter in dem Sinn, daß sie in der irdischen Erscheinung das Göttliche erkennen und verehren. Das Idol verhält sich zu Gott wie der Liebende zum Idol. Das ist ein Stück neuplatonischer Hierarchie des Seins. Der Schatten, der schwindet, kehrt ins Licht zurück. Am Ende der Abbildverehrung steht die Verschmelzung mit dem Urbild.
Johann Christoph Bürgel, in: Rumi, Gedichte aus dem Diwan. Ausgewählt, aus dem Persischen übertragen und erläutert von Johann Christoph Bürgel. München: C.H. Beck, 2003, S. 65.
Hermann Broch
(* 1. November 1886 in Wien; † 30. Mai 1951 in New Haven, Connecticut)
STIMMEN
Als die Männer zurückkehrten aus dem Krieg,
dessen Schlachtfelder brüllende Leerheit
gewesen waren, da fanden sie daheim genau
dasselbe, kanonengleich brüllend die Leere
der Technik, und wie auf den Schlachtfeldern
hatte das Menschenleid sich in die Winkel der
Vakuumräume zu verkriechen, umwittert von
deren Schreckensheiserkeit, mitleidlos umwittert vom
rohen Nichts.
Da war es den Männern, als hätten sie nicht
zu sterben aufgehört,
und sie fragten, was alle Sterbenden
fragen: wohin, ach, wohin haben wir
unser Leben vertan? Was hat uns in
solche Leerheit hineingestellt und
dem Nichts anheimgegeben? Ist das
wirklich des Menschen Bestimmung und
sein Los? Soll unser Leben wirklich
keinen anderen Sinn als diesen Nicht-Sinn
gehabt haben?
Indes, die Antworten auf die Fragen waren
selbsterteilte, und demzufolge waren sie
wieder nur leere Meinungen, wieder nur das
leere Nichts,
eingebettet im Nichts, geformt vom Nichts
und daher vorbestimmt, wiederum abzugleiten
zur Wirrnis der Überzeugungen, die den
Menschen zwingen, aufs neue sich aufzuopfern,
aufs neue wie im Kriege,
aufs neue in unheilig-hohler Heldischkeit,
aufs neue in einem Tod ohne Märtyrertum,
aufs neue im leeren Opfer, das nimmermehr
über sich hinauswächst.
Wehe über eine Zeit der hohlen Überzeugungen
und hohlen Opfer!
Aus: Tränen und Rosen. Krieg und Frieden in Gedichten aus fünf Jahrtausenden, herausgegeben von Achim Roscher, Berlin: Verlag der Nation, 1967 (2. erweiterte und verbesserte Auflage), S. 235
Ferdinand Hardekopf
(* 15. Dezember 1876 in Varel; † 26. März 1954 in Zürich)
Paul Raabe nannte Hardekopf den „heimlichen König des Expressionismus“.
Spleen
Ein Bündel Mond erreichte mein Gesicht
Um 3 Uhr nachts, ein Quantum Butterlicht,
Und mahnte [3 Uhr 2]: «Ein Spuk-Gedicht,
Nervös-geziert, ist Literatenpflicht!»
Die Kammer dehnte sich verbrecher-hell.
Der Mond, ein Dotterball, schien kriminell.
Da stieg die Dame Angst [-Berlin] reell
Auf ihr imaginäres Karussell.
Ein Schneiderkleid umpresste mit Radau
Die Dame Angst: die Gift- und Gnadenfrau.
Doch das Zitronen-Ei [um 3 Uhr 5 genau]
Versank in Bar-Fauteuils aus Dämmerblau. –
Nachhüstelnd, matt-dosiert: « Macabre-Bar!
Ihr lila Blicke! Schweflig Tulpenhaar!
Aus Puderkrusten Tollkirsch-Kommentar!
Ein Gruss: du noctambules Seminar!»
... So. 3 Uhr 10. Wie süss verwirrt ich war!
Aus: Anthologie der Abseitigen. Hrsg. Carola Giedion-Welcker. Frankfurt/Main: Luchterhand, 1990, S. 78 (Lizenzausgabe der Arche, Zürich 1965. Ursprünglich erschien die Anthologie 1946)
Elisabeth Langgässer
(* 23. Februar 1899 in Alzey; † 25. Juli 1950 in Karlsruhe)
Frühling 1946
Holde Anemone,
Bist du wieder da
Und erscheinst mit heller Krone
Mir Geschundenem zum Lohne
Wie Nausikaa?
Windbewegtes Bücken,
Woge, Schaum und Licht!
Ach, welch sphärisches Entzücken
Nahm dem staubgebeugten Rücken
Endlich sein Gewicht?
Aus dem Reich der Kröte
Steige ich empor,
Unterm Lid noch Plutons Röte
Und des Totenführers Flöte
Grässlich noch im Ohr.
Sah in Gorgos Auge
Eisenharten Glanz,
Ausgesprühte Lügenlauge
Hört ich flüstern, daß sie tauge,
Mich zu töten ganz.
Anemone! Küssen
Lass mich dein Gesicht:
Ungespiegelt von den Flüssen
Styx und Lethe, ohne Wissen
Um das Nein und Nicht.
Ohne zu verführen,
Lebst und bist du da,
Still mein Herz zu rühren,
Ohne es zu schüren –
Kind Nausikaa!
Aus: Tränen und Rosen. Krieg und Frieden in Gedichten aus fünf Jahrtausenden, herausgegeben von Achim Roscher, Berlin: Verlag der Nation, 1967 (2. erweiterte und verbesserte Auflage), S. 378 (Vorlage: Elisabeth Langgässer, De profundis. München: Kurt Desch, 1946)
Robert Gernhardt
Zu zwei Sätzen von Eichendorff
Dämmrung will die Flügel spreiten,
wird uns alsobald verlassen,
willst du ihren Flug begleiten,
mußt du sie am Bürzel fassen.
Freilich, mancher, der so reiste,
fiel aus großer Höh' hinunter,
weil er einschlief und vereiste.
Hüte dich, bleib wach und munter.
Aus: Robert Gernhardt, Gesammelte Gedichte 1954 – 2006. Frankfurt am Main: S.Fischer, 2010. (2. Auflage), S. 98.
Man weiß, dass das Werk der griechischen Dichterin Sappho zum überwiegenden Teil in Fragmenten überliefert ist. In der Anthologie „Tränen und Rosen. Krieg und Frieden in Gedichten aus fünf Jahrtausenden“, die, herausgegeben von Achim Roscher, 1967 (2. erweiterte und verbesserte Auflage) im Ostberliner Verlag der Nation erschien, findet sich dies:
LASST MICH
Laßt mich heut Anaktorias, der schon mir
Fernen, gedenken!
Lieber säh ich ihre geliebten Schritte
Und das Spiel auf ihrem beglänzten Antlitz
Als die Wagen lydischen Landes und in
Waffen das Fußvolk.
Als Übersetzer ist Ernst Morwitz genannt, Quelle ist die Anthologie „Lyrik der Welt“, herausgegeben von Fritz Jaspert beim Safari-Verlag Berlin 1953.
Die zweite Strophe ist eine komplette Odenstrophe, eine sapphische Ode, wie sie vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in der deutschen Lyrik gepflegt wurde. Sie besteht aus drei rhythmisch vordrängenden Elfsilblern und einer kurzen, fünfsilbigen Zeile (Adoneus), die die rhythmische Bewegung zum Stillstand bringt. Der Eindruck des Vorwärtsdrängens entsteht vor allem durch einen Daktylus im dritten Versfuß oder Takt:
Lieber | säh ich | ihre ge | liebten | Schritte
Kurz gesagt, das Gedicht sieht aus wie eben ein Sapphofragment aussieht. Man könnte eine Sapphoausgabe durchblättern und nach sechszeiligen Fragmenten durchsuchen. Das geht ziemlich schnell, eine zweisprachige Gesamtausgabe aller Gedichte und Fragmente braucht nicht viel mehr als 200 Seiten. Man wird es aber nicht finden. Morwitz hat tatsächlich ein Stück aus einem der wenigen längeren Gedichte der Dichterin herausgebrochen. Von dem Fragment Voigt 16 sind die ersten drei Strophen fast vollständig überliefert, die vierte hat größere Lücken und die fünfte ist wieder vollständig. Es folgen noch drei Strophen, von denen nur Reste, genauer gesagt nur Wortreste vorhanden sind. Morwitz lässt die 3 kompletten Anfangsstrophen weg, sein Fragment eines Fragments nimmt die zwei letzten Zeilen der fragmentarischen vierten und die vollständige fünfte Strophe.
Dass das Fragmentarische seinen eigenen Reiz hat, haben wir nicht zuletzt an den Sapphofragmenten gelernt – wenn ich nicht irre, lange bevor die japanischen Tanka und Haiku in europäische Sprachen übersetzt wurden. Morwitz lässt den Eingang des Gedichts mit einer berühmten Priamel in Strophe eins einfach weg wie klassischen Bildungsballast und komprimiert die „love-not-war“-Botschaft des alten Texts in sechs Zeilen.
Ich ergänze seinen Text durch die zweite Hälfte des Gedichts, von der Stelle, mit der Morwitz einsetzt, bis zum Schluss in 3 Versionen: dem griechischen Original und zwei Fassungen aus zweisprachigen Gesamtausgaben, der deutschen von Andreas Bagordo (Sammlung Tusculum 2009) und der englischen von Ann Carson: If not, Winter. Fragments of Sappho (Vintage Books, 2003). Vorangestellt noch einmal die Fassung von Morwitz mit Zeilennummern.
Laßt mich heut Anaktorias, der schon mir
16 Fernen, gedenken!
Lieber säh ich ihre geliebten Schritte
Und das Spiel auf ihrem beglänzten Antlitz
Als die Wagen lydischen Landes und in
20 Waffen das Fußvolk.


13 ... b)iegsam ...
... leichthin ...
lässt auch mich nun an Anaktoria denken,
16 die nicht hier ist,
deren verführerischen Schritt ich und das glänzende
Funkeln des Antlitzes lieber sehen möchte
als der Lyder Kriegswagen und gewappnete
20 Fußtruppen.
... es ist nicht möglich ...
(dass die) Mensch(en ..., aber sie können, um) ihren Anteil
zu haben, beten
24 ...
...
...
...
28. zu ...
so ...
...
...
32 unerwartet.
]for
]lightly
]reminded me now of Anaktoria
16 who is gone.
I would rather see her lovely step
and the motion of light on her face
than chariots of Lydians or ranks
20 of footsoldiers in arms.
]not possible to happen
]to pray for a share
]
]
]
]
]
toward[
]
]
]
32 out of the unexpected.
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