In der „Welt“ schreibt Wolf Biermann über den Dichter Moses Rosenkranz aus Czernowitz:
Für mich sind diese acht Zeilen (s.u.) ein großes Gedicht, geschrieben von einem kaum bekannten Dichter aus Czernowitz in der Bukowina. Moses (ursprünglich: Edmund) Rosenkranz wurde am Anfang des letzten Jahrhunderts geboren und starb an dessen Ende. Er überlebte die Lager unter Hitler und geriet gleich anschließend in Stalins GULag, wo er bis 1957 gefangen war. Vier Jahre später floh er aus Rumänien vor den Häschern des Geheimdienstes Securitate nach Westdeutschland. Im Schwarzwald erlebte er noch das Ende des Kalten Krieges. Die ihn kannten, beschreiben ihn als steilen Charakter, harten Knochen, stolz, unbeachtet, einsam, bitter. Vor allem das wird kolportiert: ungebrochen.
Sein kleines Gedicht ist groß. Es elektrisiert gleich in den ersten zwei Zeilen mein Herz, weil des sterbenden Bauern erotische Eskapade ausgerechnet angesichts seines Todes verraten wird: wie ungehörig und verboten der Mann die junge Magd da aufs Kreuz gelegt hat. Liebe und Tod sind hier im Kunstwerk so nahe beieinander wie im richtigen Leben. Schwer rauszukriegen, wo nun der Krampf größer war: im Geschlechtsakt oder im Sterben. Wer fickt hier wen? Der Mann das Mädchen? Der Tod den Mann? Der Poet die Muse?
Moses Rosenkranz
Des Bauern Tod
Er schlug die Arme um die Erde
Wie um die jüngste Magd, im Krampf;
Und fühlte: Rinder, Knechte, Pferde,
Und starken Schweiß, der Scholle Dampf.
Der Andre rollt ihn auf den Rücken
Und ließ ihn so; sein schwer Gewicht
Lag wie ein Stein im Flurenlicht,
Ein weicher Stein aus grauen Stücken.
Die Welt 25.3.02
Zunächst der heimliche, dann mit der Preisverleihung des (seriösen) „Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung“ am Sonntag auch öffentliche Star der Buchmesse war der sympathisch-ironische serbische Prosaist und Lyriker Bora Cosic (Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution – den Anerkennungspreis erhielt der tschechische Autor und Übersetzer Ludvik Kundera ). Im Gohliser Rokoko-Schlösschen, das mitten in der Stadt zwischen Gründerzeit-Mietshäusern tapfer und frisch renoviert ausharrt (dort las schon Schiller tabakschnupfend Balladen vor), rezitierte Cosic aus seinem Lyrikband Die Toten mit unkitschig-sentimentalischen Berlin-Vignetten (der Autor, geboren 1932, lebt jetzt freiwillig in Berlin, nachdem er 1992 ins Exil gehen musste). Nach der Lesung fragte ihn ein Zuhörer, was er denn vom Rummel um den Deutschen Bücherpreis halte, worauf Cosic nachfragte: „Sie meinen den Fisch?“, und dann antwortete: „Ich gehe nicht fischen!“ / FR 25.3.02
Die Leipziger Volkszeitung berichtet u.a. dies von Lyriklesungen im Gohliser Schlößchen in Leipzig:
Dicht auf den Versen folgte ihm [Rosenlöcher] der 27-jährige Berliner Björn Kuhligk, der leider mit „erotischen Liebesgedichten“ angekündigt wurde. Statt platter Provokation gelingen dem als „Asphalt-Rimbaud“ gefeierten Dichter kraftvolle Bilder: „… IN EINEM HAUSFLUR/grub ich mich dir ein und/entlockte deinem Mund/die Vögel, die ich/zwischen meine Finger nahm.“ / Leipziger Volkszeitung 25.3.02
Even more disappointing were the final stanzas of legendary wordsmiths the likes of Lord Byron and Johann Wolfgang von Goethe. Byron couldn’t be bothered to work up a decent rhyme. „Now I shall go to sleep. Good night.“ While Goethe’s last words were so dull biographers have been obliged to edit creatively. „Open the second shutter so that more light may come in“ became the more sublime, „More light!“ (There is, as with many last words, some debate whether Goethe’s last words were not in fact, „Come my little one, and give me your paw.“ For the editors of Columbia World of Quotations, at least, the choice was obvious.) And one is almost loath to mention that after a lifetime of setting down le mot juste, Walt Whitman ’s last barbaric yawp was „Hold me up; I want to shit.“ / The Vocabula Review 3/2002
Here is Primo Levi’s poem „Shemà,“ which is included in the poet Joan Murray’s useful new anthology Poems to Live By in Uncertain Times. The poem is based on the principal Jewish prayer, „Hear, [Shema] O Israel: the Lord is our God, the Lord is One!“ (Deuteronomy, 6:4-9). Levi returned from Auschwitz to his native Italy after the war, vowing never to forget the horror he had witnessed. The prayer, which he had learned as a 12-year-old boy studying for his bar mitzvah, echoed in his memory, like a clarion call. He borrowed its solemn liturgical cadence and style for the poem he wrote on Jan. 10, 1946, which he then used as the epigraph to his first book, If This Is a Man (1947). It is addressed to everyone who lives in safety, and it carries a message that has been brought back from the kingdom of death. / The Washington Post , 24.3.02
Die 91jährige surrealistische Künstlerin Dorothea Tanning malt nicht mehr, lesen wir in der New York Times (24.3.02*).
Instead, she writes poetry on her new Macintosh, on which she is also learning to use the Internet. Her poems have appeared in The New Republic, The Boston Review and Poetry. Last summer, she published a memoir, „Between Lives.“
[Über den Surrealismus:] „There’s enough of greatness in there that there will always be something rewarding for someone who likes to look at beautiful things and wonderful paintings. Surrealism is a piece of history, and it has stained the consciousness of everyone.“
Hier gibt es einen Text der Autorin (Fortune Cookies, in: Boston Review Dec. 2001/Jan. 2002).
Es sind Langgedichte, der Rhythmus frei, hier beschleunigend, da verlangsamend, hier nachdenklich, da furios anklagend. Vor allem aber sind es Abschiedstexte, vom Wechselspiel zwischen Deutsch und Englisch, der Zweisprachigkeit jener verlorenen Liebe, unterspült: «Und mein Gesicht: blind. / Mein Haus: Verzicht. / Verzieh dich! / Leave me, lover. Belagerung beendet. / Die Festung freit sich selbst. Ruine. Aber frei. / Freit sich, lover. In frivoler Verzweiflung. / Don’t cry. / Don’t be shy. / Und das Pendel schwingt: Nein.» / Sibylle Birrer, Neue Zürcher Zeitung , 23. März 2002
Ilma Rakusa: Love after love. Acht Abgesänge. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001. 54 S., Fr. 12.20.
Nach ihrem Selbstmord am 1. Juni 1966 verschwand Inge Müller umgehend aus den Annalen der DDR-Literaturgeschichte. Kurz nach ihrem Tod hatte der Aufbau Verlag den vergeblichen Versuch unternommen, ihre seit 1957/58 entstandenen Gedichte in einer Ausgabe vorzustellen. Für die paranoiden Literaturpolitiker der DDR bedeutete es indes eine Zumutung, eine Selbstmörderin als lyrische Entdeckung präsentieren zu sollen. Dass hier eine Autorin in knappen bitteren Fügungen von traumatischen Erfahrungen des Verlusts und der Angst sprach, brüskierte zudem die verbissenen Positivitäts- und Pathos-Doktrinen der SED-Kulturpolitik. Erst ein Jahrzehnt später gelang es Bernd Jentzsch in der populären Reihe Poesiealbum eine erste kleine Auswahl von 37 Gedichten zu veröffentlichen. Dann dauerte es noch einmal zehn Jahre, bis 1985 Richard Pietraß den poetischen Rang Inge Müllers in dem Auswahlband Wenn ich schon sterben muss demonstrieren durfte – freilich mit extrem schwacher Resonanz. Erst dreißig Jahre nach ihrem Tod erlebte die Dichterin Inge Müller eine Wiedergeburt – dank des Auswahlbandes, den die Schriftstellerin und Literaturhistorikerin Ines Geipel 1996 für den Aufbau Verlag zusammenstellte. / Michael Braun, Freitag 22.3.02
Ines Geipel: „Dann fiel auf einmal der Himmel um.“ Inge Müller – Die Biografie. Henschel Verlag, Berlin 2002, 256 S., 19,90 EUR
Und beide beharren auf einem Trotzdem des Gedichts: Das titelgebende Schlussgedicht Erklärte Nacht hebt bei Grünbein mit dem Understatement an: Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle. / Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil. / Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen. / Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel. Kurt Drawert hat das Gedicht in einem durchaus emphatischen Sinne essayistisch als „Generator“ und Kommunikat zugleich beschrieben, er betont die dialogische und existenzielle Dimension des Poetischen: Das Gedicht qualifiziere sich „durch einen permanenten Überschuß an Energie, und sein Sinn kann demnach auch nicht der Stoff sein, den es aufgenommen und ausgebreitet und verarbeitet hat; sein Sinn kann nur jener Überschuß sein, den es zu produzieren imstande ist.“ … Ich habe nicht oft in den letzten Jahren so weltöffnende Gedichtbände lesen können wie die von Drawert und Grünbein. Aus der Flut neubiedermeierlicher Harmlosigkeiten ragen sie sowieso hervor. / Peter Geist, Freitag 22.3.02
Kurt Drawert: Frühjahrskollektion . Gedichte, Frankfurt a.M. 2002; 96 S., 15,- EUR
Durs Grünbein: Erklärte Nacht . Gedichte, Frankfurt a.M 2002. 160 S., 18,- EUR
der auf einem Felsen sitzt, sagt der Schriftsteller Oliver Friggeri. Mal sitzt der Frosch unter, mal oberhalb des Wassers – wie eine Amphibie, die sich nicht entscheiden muss: Sollen wir isoliert bleiben oder uns integrieren? Der 55-jährige Schriftsteller, Lyriker und Maltesisch-Experte wohnt in einem Reihenhaus in dem Durchgangsstraßendorf Birkirkara und versucht die Seele des Maltesers bei geschlossenen Fensterläden zu ergründen. / Die 20.3.02
Über Robert Schindel schreibt der Wiener „Standard“:
Robert Schindel hat die Gegenwartsliteratur um eine wichtige Perspektive erweitert. Das konnte so nur ein Kind jüdisch-kommunistischer Eltern, die sich 1944 als getarnte Widerstandskämpfer aus Frankreich nach Oberösterreich einschleusen ließen, wo am 4. April 1944 in Bad Hall Robert Schindel geboren wurde. Die Eltern verfingen sich bald darauf im Netz der Gestapo, der Vater wurde in Dachau hingerichtet, die Mutter überlebte und fand im August 1945 den Sohn wieder: Er war, als Robert Sodl umbenannt und zum angeblichen Kind französischer Zwangsarbeiter erklärt, in einem Wiener Waisenhaus von den Schwestern als U-Boot verwahrt worden. / Der Standard , 20.3.02
Bert Papenfuß: Christa Wolf hat mir immer ihre Bücher gegeben, hat aber immer dazu gesagt, dass ich sie nicht lesen brauche. Ich habe mich weitestgehend daran gehalten. Karl Mickel hat mich mal auf eine Stelle in „Nachdenken über Christa T.“ aufmerksam gemacht, an der, wenn ich mich richtig erinnere, Christa T. über das Elend der Welt nachdenkt, dann wird ihr schwindelig, und sie stößt mit dem Kopf an den Kaminsims. Das fand Mickel witzig. Am Kamin über das Elend der Welt nachzudenken. Daraufhin habe ich das Buch gelesen und fand es sehr gut. / 20.3.02
Die Legionen von Ungeborenen, sie sind längst nicht mehr nur die düsteren Metaphern aus den Gedichten von Georg Trakl . Sie klagen weder von ihrem mythischen Ort aus „im Herbstwind“, noch sind sie „ungeborne Enkel“, die nur deshalb niemals möglich sein werden, weil jene, die ihre Eltern hätten zeugen können, auf dem Schlachtfeld von Trakls „Grodek“ verbluteten. Es gibt längst neue Schlachtfelder. Trakls Ungeborene sind, nicht minder unheimlich, durch die moderne Reproduktionsmedizin wirklich geworden. Und mit ihnen sind neue Fragen auch nach Schuld und Rechtfertigung aufgetaucht. / Anne Zielke: Familienglück mit überzähligen Embryonen: Eine amerikanische Agentur hilft / Frankfurter Allgemeine Zeitung , 20.03.2002
Marcel Beyer schreibt Gedichte, die nicht von der Fremdheit der Phänomene erlösen, sondern … mitten in ihr „Geheimnis“ hinein führen. Hier wird in großer Eindringlichkeit über Geschichte gesprochen – in Gedichten, die gleichermaßen aus benennen und Verschweigen bestehen. / Michael Braun, FR 20.3.02
Marcel Beyer: Erdkunde. Gedichte. DuMont Literaturverlag Köln 2002, 118 Seiten, 16,90 EU
Die NZZ zitiert Luise Rinsers selbstgeschriebenen Nachruf von 1992:
«Sie hat ihre Aufgabe als Störfaktor bis zum letzten Atemzug erfüllt. Jetzt hat und gibt sie (hoffentlich) Ruhe für eine Weile.» / NZZ 19.3.02
Weitere Nachrufe: Die Welt 19.3.02 / FAZ 19.3. (Walter Hinck) / Landbote Winterthur 19.3. / Leipziger Volkszeitung 19.3. / Augsburger Allgemeine 19.3.
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