Rezensent Heinrich Detering nennt Harald Hartungs Gedichtband „ein wunderbar abgründiges Buch“ und fordert, den Autor endlich zu den „derzeit wichtigsten Lyrikern im Lande“ zu zählen. / FAZ 26.10.02
Hartung, Harald
„Langsamer träumen“ Gedichte
Carl Hanser Verlag, München 2002, ISBN 3446202374
Gebunden, 96 Seiten, 13,90 EUR
In der Frankfurter Anthologie (gleiche Ausgabe) stellt Wulf Segebrecht ein Gedicht Hartungs vor.
„Volker Braun is brash and strident“, schrieb der Kritiker der TLS dereinst (also hastig, schrill, unüberlegt, scharf, dreist, durchdringend, grell, unverschämt…) Wieviel mehr das alles für Brasch, Thomas, Brasch is brash? Über ihn schrieb Michael Braun für die Baz:
«So lief ich durch das Finster in meinem Schädelhaus»
Es ist ein sehr einsamer Dichter, der hier seine Lebensstrecke vermessen will. Als Melancholiker starrt er auf die immergleiche Leere, in der das Leben verrinnt. Die gelebte Biographie schrumpft zu Spiegelungen der eigenen Verlassenheit. … “ (24.10.02).
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Als Trostpflaster für die anderen hier ein frühes Gedicht von Brasch:
Wie viele sind wir eigentlich noch.
Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer.
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Wie viele sind wir eigentlich noch.
War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Platte.
Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
WelchenNamen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.
Als dieses Gedicht 1975 in einem 90-Pf-Heftchen der Reihe Poesiealbum erschien, lebte Brasch noch im Land DDR, das es nicht mehr gibt. Brasch leider auch nicht.
In der Zeit würdigt Jens Jessen die Berliner „Lange Nacht der arabischem Poesie“ mit dem Gipfeltreffen Adonis/ Darwisch und die gerade erschienene neue Nummer der Poesiezeitschrift „Diwan“, in der u.a. eine Umfrage zum hema Exil und Heimat steht. Mitherausgeberin Amal Al-Jubouri schreibt dort:
In der arabischen Welt, besonders in meinem Heimatland, ist Heimat etwas, das unsere Persönlichkeit unbarmherzig zwingt, in der Gemeinschaft aufzugehen und zum Teil einer Herde zu werden. Die Stimme des einzelnen Autors kann nur im Rahmen der Stimme der gesamten Nation existieren, und diese ist das Produkt der Politiker und der Geistlichen.
Jessen berichtet über die Diskussion:
Es war kein Zufall, dass diese innerarabische Diskussion in Berlin stattfand. Denn zur Erinnerungslast gehört auf israelischer Seite vor allem der Holocaust. Mit Nachdruck erinnerte der moderierende Iraner Navid Kermani daran, dass unweit vom Tagungsort, am Bahnhof Grunewald, die Juden deportiert wurden. Die Frage ist nur: Was können die Palästinenser dafür? „Warum müssen wir“, fragte Darwisch, „mit unserem Land für eine historische Katastrophe bezahlen?“ Es war eine rhetorische Frage, in die sich die depressive Einsicht kleidete, dass jenes deutsche Verbrechen noch immer Unheil fort und fort zeugt. „Vielleicht“, sagte Darwisch, „wurden die Palästinenser tatsächlich ausersehen, wiederum eine Art Juden zu sein.“ Das Problem sei nur: „Die Israelis wollen keine anderen Juden.“ Und in der Tat, aus einem Kampf der Opfermythen ist natürlich kein Ausstieg möglich. / Die Zeit 44/2002
Knapp vierzig Jahre später sind nun bei intermedium records Jandls Debütarbeiten für das Radio erstmals auf CD erschienen, die „13 radiophonen texte“, die Jandl 1966 im Auftrag der BBC London produziert hatte. Die Sprechgedichte, wie sie Jandl titulierte, ergänzt das auf Schallplatte lange vergriffene Hörspiel „das röcheln der mona lisa“ aus dem Jahr 1970. Beide Stücke beweisen, dass Jandl kein Erneuerer der deutschen Literatur (und speziell des Hörspiels) war, sondern ihr radikaler Kritiker, der Entwerter eines verstockten Literaturverständnisses, das den Suhrkamp Verlag in den fünfziger Jahren dazu bewogen hatte, Jandl zu bescheinigen, er sei ein „Dichter ohne Sprache“. …
Jandl, der „Sternenarchitekt der Silben“ (H. C. Artmann), war ein verspielter Analytiker dessen, was sich der menschliche Planetenbewohner in seiner Sprache antut, aus vermeintlich freien Stücken. Wo heute alles kommuniziert wird, die Ware, die Politik, das Leben, wo, so Adorno, der „Schwindel der Kommunikation“ den Schleier über die Welt legt, die in einem Universum der Manipulation, geboren aus Fernsehen und Marketing, rotiert, das parallel zur Wirklichkeit liegt, lag Jandl richtig: sinnfern unprätentiös, abgeklärt, desillusionierend: „talk – bla bla bla bla / bla bla bla / bla bla bla bla / bla bla bla / bebb / bebb / bebbebb / bebbebbebbbebebb / bebb / bebb / bebbebb / bebbebbebbbebebb / bla bla bla“.
Ernst Jandl: „13 radiophone texte“ & „das röcheln der mona lisa“, intermedium records/Strunz! enterprises 2002, 67 Min., unverb. Preisempfehlung: 18,90 Euro.
/ Jürgen Roth, FR 22.10.02
in Wien. Nick Cave mit düsteren Balladen, die junge Autorin Ayu Utami aus Jakarta mit provokanten Attacken, der österreichische Schrammel-Musiker Roland Neuwirth mit deftigen Dialektversen – vielstimmig und vielsprachig, jung und traditionell, gereimt und ungereimt erklingt ein internationales Ständchen. Schüler und Meister des gesprochenen, gesungenen oder geschriebenen Wortes feiern mit Konzerten und Performances im Oktober den 10. Geburtstag der «schule für dichtung» in Wien.
«Es gibt Akademien für alles und jedes, nur nicht für Lyrik», war die Ausgangsüberlegung des Wiener Schriftstellers Christian Ide Hintze, als er 1992 die ungewöhnliche Lehranstalt mit dem Kürzel sfd aus der Taufe hob. Dabei signalisiert bereits das Logo, für das Christian Morgensterns Gedicht «Fisches Nachtgesang» Pate stand, die inhaltliche Ausrichtung. Das erste konkrete Gedicht der Literaturgeschichte, das nur aus Betonungszeichen besteht, verweist auf die akustische und optische Dimension der Sprachkunst. / Leipziger Volkszeitung 21.10.02
(eine dpa-Meldung, die die Lokalzeitungen landesweit nachdrucken; die Großen: kommen bestimmt noch?)
Über Gedichte aus der Gefühlswelt des Dichters Gert Heidenreich berichtet die Augsburger Allgemeine am 21.10.02 – Die Aachener Nachrichten kündigen den neusten Lyrikgipfel an (mit Draesner und Hummelt). – Die Nordbayrischen Nachrichten berichten über den Nürnberger Mundartdichter Fitzgerald Kusz.
Adonis, wie Mahmud Darwisch ein Star der Abende, las aus einem Prosagedicht von 1971, aus „Grab für New York“, das den arabischen Antiamerikanismus jenseits der Religion als Kritik der Moderne beschreibt. „Der Wind weht ein zweites Mal aus dem Osten, er entwurzelt die Wolkenkratzer wie die Zelte“, heißt es in der Übersetzung von Stefan Weidner. Und: „Die Tat ist eine Richtung, ein Moment, das Wort aber ist jede Richtung.“ Intellekt statt Terror.
In einem Interview mit der Zeit beklagte Adonis kürzlich, dass die Amerikaner in politischen Fragen nie mit arabischen Oppositionellen sprechen. Er selbst hat als Dichter nämlich durchaus etwas vor: „Ich will eine neue arabische Kultur, eine neue Geschichte und Zivilisation begründen.“ / FR 21.10.10
Michel Boy trägt die beiden Gedichte, die unbekümmert um Genreschranken oft wie aufgeregte und dramatisch zugespitzte Erzählungen daherkommen, vor, wie sie unbedingt vorgetragen werden müssen: Er tritt nicht als Rezitator auf, sondern verkörpert einen Sprecher, der sich zuerst in Rage redet und dann, von der eigenen Suada mitgerissen, den roten Faden fast verliert. Tatsächlich gibt es zumal in Crosse en l’air (das ist der Bischofsstab in der Luft) die abenteuerlichsten Verwicklungen; kein noch so ernstes Thema hindert Prévert , den Eigenbewegungen der Wörter nachzugehen und etwa um einer Verkettung von Assonanzen willen immer neue Situationen zu erfinden und manchmal geradewegs in den schönsten Dada-Nonsens abzudriften. / FR 21.10.02
Bei dem Titel handelt es sich um die erste und bislang einzige Monographie über den jüdisch-mährischen Autor Hugo Sonnenschein (1889-1953). Darin untersuche ich Sonnenscheins frühe Lyrik und arbeite heraus, dass sie eng mit tschechischsprachigen Texten verknüpft ist, beispielsweise mit den Schlesischen Liedern von Petr Bezruc oder mit Dichtungen Otokar Brezinas. Außerdem enthält das Buch erhellende Hinweise auf Sonnenscheins umstrittene Biografie; in diesem Zusammenhang zitiere ich aus Dokumenten, die das 1947 vom Außerordentlichen Volksgericht in Prag gegen Sonnenschein ausgesprochene Verdikt, er sei Konfident der Gestapo gewesen, sehr fragwürdig erscheinen lassen. Die Publikation basiert auf mehrjährigen Archivstudien in Tschechien und Österreich und verarbeitet umfangreiches Quellenmaterial, das der Forschung zum Teil erst seit Anfang der 90er Jahre zugänglich ist. / 20.10.02
Dieter Wilde: Der Aspekt des Politischen in der frühen Lyrik Hugo Sonnenscheins. Frankfurt am Main 2002
Verlag Peter Lang
ISBN 3-631-38551-X
Mitte der Achtziger, Oskar Pastior war durch sein Petrarca-Übersetzungsprojekt 33 Gedichte bei Hanser drei Jahre zuvor über den beschaulichen Kreis von Kollegen und Fans von Hardcore-Experimental-Lyrik hinaus aufgefallen, und sei es auch nur, indem er den Zorn der akademischen Gilde zum Schutze der Renaissance vor unbefugten Dichterhirnen auf sich gezogen wenn nicht vereinigt hatte, machte Die Zeit ein Porträt des Dichters, in dem viel von Sprachalchemie, von Molekülen, von kleinsten Baueinheiten der Sprache jedenfalls gesprochen wurde, außerdem kam, als Metaphernlieferant, des Dichters Zigarettendrehmaschinchen vor (die heute nicht mehr in Gebrauch ist, da sein Herrchen das Rauchen drangegeben hat).
… …
Das insistierende Herumreiten auf nordbalkanischer Geografie hat insofern einen Sinn, als dieser in Mehrheit deutschsprachige, polylinguale Teil Rumäniens, dass die Stadt und die siebenbürgische Kindheitsregion ein nicht zu unterschätzendes Schreib-Reservoir für den Dichter gebildet hat und nach wie vor bildet. Als zu seinem Siebzigsten die Münchener Zeitschrift Akzente ein Pastior-Heft herausgab, gab es dort, neben dem für Dichter-Geburtstagsnummern so üblichen Selbstgebackenen, lies Selbstgedichteten, aus dem Umkreis des Jubilars, einen ungewöhnlich interessanten Beitrag.
… …
Ich erinnere mich, das muss Ende der Achtziger gewesen sein, als Jandl sich in folgendem Sinne geäußert hat: „Oskar Pastior hat inzwischen die Führung in der experimentellen Lyrik übernommen“, und ich täusche mich kaum, wenn aus diesem Statement eine Erleichterung herauszuhören war./ Thomas Kling gratuliert dem Dichter Pastior zum 75., FR 19.10.02
2 von Kling ausgestellte Pastiorzitate zum Schluß:
„Hölderlin ist eine schöne, dem Deutschen verwandte Sprache.“
„Meine Halden sind natürlich Abraumhalden, taubes Gestein, Ausgeschwemmtes (wie jede Übersetzung). In der Nacht, wenn die Selbstentzündung in den Stoffen sichtbar wird, glühen die Halden von innen.“
Mehr zum Jubilar:
Mehr zum Jubilar: RALF SZIEGOLEIT über Gedichtgedichte (Frankenpost 19.10.) / Frankfurter Neue Presse (und andere) 19.10.02
Über Probleme des Übersetzens aus dem Litauischen schreibt Michael Braun anhand einer verdienstvollen, trotzdem hochproblematischen Venclova-Ausgabe:
Das Schicksal der litauischen Dichtung wird aber wohl weiterhin Tomas Venclova repräsentieren, der Emigrant, der während der ersten 40 Jahre seines Lebens mit dem Paradox konfrontiert war, in einem Land mit verschlossenem Meer zu leben. So trifft der Dichter in einem ganz buchstäblichen Sinn vor seiner Tür auf das Ende der Welt: Der frühe Frost, der geht durch alle Wörter, / Versengt den Mund, versengt die Lungen / In dem Imperium am abgesperrten Meer. / Freitag 42. 19.10.02
Tomas Venclova: Vor der Tür das Ende der Welt. Gedichte. In der Übertragung von Rolf Fieguth. Mit einem Essay von Joseph Brodsky. Carl Hanser Verlag (Rospo Verlag), München 2002, 102 S., 13,90 EUR
Billy Collins is the nation’s current poet laureate and a „wildly successful seller of books (as poets go, anyway),“ notes the poet Mary Jo Salter. „‚Do you know the Billy Collins poem about . . .‘ is the beginning of a question I’ve heard a lot recently,“ she writes, noting that people recall the subjects of Collins’s poems but usually „can’t call up Collins’s exact phrasing,“ partly because he is not known for „complex metrical effects or rhyme schemes. It’s fair to say that you wouldn’t want most poets to disregard so many tools of versification.“ … Salter says Collins is „the real thing in poetry,“ that his poems leave „your mind freshened, robbed of a few complacencies.“
NINE HORSES
Poems.
By Billy Collins.
120 pp. New York: Random House. $21.95
NYT Books 19.10.02:
• Review
• Audio: Billy Collins Reads Selections From ‚Nine Horses‘
Über eine teure Handschrift des Dramatikers (und Gelegenheitslyrikers) Heinrich von Kleist berichtet der Tagesspiegel am 19.10.02:
„Unter allen Zweigen ist Ruh,/ In allen Wipfeln hörest du/Keinen Laut./ Die Vögelein schlafen im Walde,/ Warte nur, balde/ Schläfest Du auch.“
Süddeutsche am Wochenende empfiehlt ein Restaurant mit literarischem Kontext:
Nils Emils Lammtopf mit Pfifferlingen, Bellmans gebratener Hering oder Ulla Winbladhs Fischtopf mit sahniger Schalentiersoße. Carl Mikael Bellman (1740 bis 1795): So heißt der berühmteste schwedische Komponist und Lyriker – und Ulla Winbladh war Bellmans Pseudonym für seine Geliebte, die eigentlich Maria Kristina Kallström hieß. Aber das wäre kein so guter Name für ein Restaurant gewesen. / SZ 19.10.02
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