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Veröffentlicht am 22. Oktober 2025 von lyrikzeitung
390 Wörter, 2 Minuten Lesezeit
Goethe hat das An-die-Wand-schreiben von Gedichten (Wanderers Nachtlied) nicht erfunden. Im 11. Jahrhundert lebte der Dichter Su Shi, bekannt auch unter dem Namen Su Dungpo, der hat es wahrscheinlich auch nicht erfunden, aber von ihm gibt es dieses Gedicht.
Im Hsilin-Kloster auf dem Luschan zur Erinnerung an die Wand geschrieben
Waagrecht betrachtet, werden Gipfel Kämme –
und Kämme Gipfel, senkrecht angesehn.
Und Ferne, Nähe, Tiefe oder Höhe
lassen ein immer neues Bild entstehn.
So kann ich nicht ihr wahres Antlitz sehn,
weil ich inmitten dieser Berge stehe.
Aus dem Chinesischen von Ernst Schwarz, aus meiner ersten Sammlung chinesischer Gedichte: Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen. Berlin und Weimar: Aufbau, 1976, S. 151.
Eine vermutlich wörtliche Übersetzung fand ich in einer wissenschaftlichen Arbeit.
Der Mauer des Xilin-Klosters eingeschrieben (Su Dongpo)
Horizontal gesehen eine Bergkette, von der Seite wird es ein Gipfel,
Von fern, nah, oben, unten immer anders,
Das wahre Angesicht des Lu-Bergs ist nicht zu erkennen,
ist man selbst nur in seiner Mitte.
Aus: Sara Landa: Chinesischdeutsche Lyrikdialoge. Annäherungen an die chinesische Dichtung vom Expressionismus bis zur Gegenwart. 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston.
题西林壁 (东坡)
横看成岭侧成峰
远近高低无一同
不识庐山真面目
只缘身在此山中
Die chinesische Form hat auch für Schriftunkundige ihre Schönheit, so ein schönes (Fast-)Quadrat mit 4 Zeilen von je 7 Silben. Das müsste auch rhythmisch zu spüren sein, eine Folge von 7 Schlägen – bam bam bam bam bam bam bam! in Googles Transliteration:
Héng kàn chéng lǐng cè chéng fēng
yuǎnjìn gāodī wú yītóng
bù shí lúshān zhēnmiànmù
zhǐ yuán shēn zài cǐ shānzhōng
Noch zwei Versionen von Google nachgetragen:
Von der Seite betrachtet, wird ein Berg zum Gipfel.
Aus der Ferne, aus der Nähe, von oben oder von unten sieht alles gleich aus.
Ich kann das wahre Gesicht des Mount Lu nicht erkennen.
Das liegt einfach daran, dass ich mich in ihm befinde.

Su Shi (chinesisch 蘇軾 / 苏轼, Pinyin Sū Shì, * 8. Januar 1037; † 24. August 1101) war ein Dichter, Maler, Kalligraf und Politiker der chinesischen Song-Dynastie. Er ist bekannter unter seinem Pseudonym bzw. Ehrennamen Su Dongpo (蘇東坡 / 苏东坡, Sū Dōngpō – „Su vom Osthang“), den er sich gab, als er während seiner Verbannung nach Hubei auf einem Anwesen in Dongpo („Osthang“) lebte. Eine Namensvariante ist Dongpo Jushi (東坡居士 / 东坡居士, Dōngpō Jūshì – „Eremit vom Osthang“). / https://de.wikipedia.org/wiki/Su_Shi
In der englischen Wiki-Version ist die Liste der Berufe eindrucksvoll länger: „calligrapher, essayist, gastronomer, pharmacologist, poet, politician, and travel writer“, während die französische ergänzt: „homme politique (mandarin)“. Ein Mandarin als Kneiper, Apotheker und Dichter.
Kategorie: China, ChinesischSchlagworte: Aufbau Verlag, Übersetzte Lyrik, Chinesisch-deutsche Lyrikdialoge, Chinesische Dichtung, chinesische Kalligrafie, chinesische Literatur, chinesische Lyrik, Chrysanthemen im Spiegel, Ernst Schwarz, Hsilin-Kloster, Johann Wolfgang Goethe, Klassik, Klassische chinesische Lyrik, Lu-Berg, Luschan, Lyrikvergleich, Lyrikzeitung, Ostasien, perspektive, Pinyin, Poesiegeschichte, Sara Landa, Su Dongpo, Su Shi, Su Shih, Tang- und Song-Dichtung, Vergleichende Literaturwissenschaft, Walter de Gruyter, Wanderers Nachtlied, Wandgedicht, Weltliteratur, Xilin-Kloster, 七言绝句
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Su Dongpo (1037-1101)
GRAFFITI IM KLOSTER XILIN
Ein Grat wird ein Gipfelspitz,
vorne oben unten links.
Lushan hat manch ein Gesicht,
denn ich bin noch mittendrin.
Übersetzt von MW im Oktober 2025
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Irgendwie kam mir Huineng in den Sinn, der ja sein Zen-Gedicht auch auf eine Wand schrieb, und damit der sechste Patriarch wurde:
(Der Berg:)
Du stehst mal hier, dann wieder dort / und schaust hinauf zu mir
Du malst getreu das was du siehst / und machst das ohne Zier
Ob innendrin vom Tal geschaut / ob auswärts ist egal
Ein leeres Blatt das trifft mich nur / das sag‘ ich frei zu dir
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Der Berg spricht? Wo ist das bei Huineng? Huineng konnte nicht schreiben. Er war ja nur ein Küchenjunge. Er diktierte einem der Mönche seine Version des Gedichtes mit dem Körper als Bodhi-Baum und dem Herzen als Spiegel. Da war kein Baum, sagt Huineng, da steht auch kein Spiegel. Da ist gar kein Ding, wo soll der Staub liegen? Das war Huinengs Gedicht.
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Ich meinte: so wie Huineng eigentlich nur verneinte was sein Mitbewerber im Wettbewerb um das Amt des Patriarchen geschrieben hat, so verneint der Berg alle Aussagen über ihn, nur ein leeres Blatt ist richtig.
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Gastronom? Ja sicher! => https://www.lokalkompass.de/bedburg-hau/c-kultur/ein-gericht-in-stein-gemeisselt_a2043940
Eine Biografie finden von Lin Yutang Sie hier: https://archive.org/search?query=su+shi+the+gay+genius
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Danke für die interessanten Links. Ich wollte mit dem letzten Abschnitt natürlich nicht schnell sagen, wie es wirklich war, sondern eine kleine humoristische Pointe. Außerdem finde ich es wichtig, immer wieder auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Wikipedia-Versionen hinzuweisen. Nie in der Geschichte war es so einfach, sich der nationalen Begrenztheit unseres Schulwissens zu versichern. Jeder Schüler kann das. Besser als wir Alten. 😀
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