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Veröffentlicht am 2. Oktober 2025 von lyrikzeitung
585 Wörter, 3 Minuten Lesezeit
David Rokeah
(hebräisch דוד רוקח; geboren am 22. Juli 1916 in Lemberg, damals Österreich-Ungarn, heute Lwiw, Ukraine; wanderte 1934 nach Palästina aus; gestorben am 29. Mai 1985 in Duisburg während einer Lesereise.)
ALLEIN
Wann ich meinen Glauben verlor
wann ich meinen Glauben wiederfand –
kein Vermerk in meinem Tagebuch
keiner in der amtlichen Gazette
Allein mit meinen ketzerischen Grübeleien
allein mit der ungelösten Arithmetik meiner Liebe
allein mit der verstrickten Erbschaft meiner toten Väter
allein mit Jerusalem in der Fremde
allein mit dem Mittelmeer das Gott ist
allein mit der Wüste die Gott ist
Ich bin geboren am Tag der Zerstörung des Tempels
ich bin geboren am Tag von Agnons Geburt
Deutsch von Erich Fried, aus: David Rokeah: Ich wandle Einsamkeit um in Worte. Gedichte. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Michael Krüger. Berlin: Suhrkamp / Jüdischer Verlag, 2025, S. 96
Anmerkung: Samuel Joseph Agnon (hebräisch שמואל יוסף עגנון Schmuel Joseph Agnon, auch Schai (Shai) Agnon, als Autor meist S. J. Agnon; * 8. August 1887 in Butschatsch, Galizien, Österreich-Ungarn, als Samuel Josef Czaczkes; † 17. Februar 1970 in Rechovot, Israel) war ein hebräischer Schriftsteller. Er begann noch in Galizien auf Jiddisch und Hebräisch zu schreiben. 1908 kam er nach Palästina, 1966 erhielt er als erster hebräischer Autor einen Nobelpreis für Literatur (geteilt mit Nelly Sachs).
David Rokeah war in Deutschland lange Zeit der einzige, der am meisten übersetzte Dichter aus Israel (seit 1962). Unter seinen Übersetzern waren etliche prominente deutsche Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried, Paul Celan, Nelly Sachs und Michael Krüger, die bis auf Celan kein Hebräisch verstanden. Krüger beschreibt die Entstehung dieser Übersetzungen in seinem Nachwort:
Er hatte seine Gedichte so gut es ging selbst übersetzt, er las also das Original und dann die Übersetzung, er erklärte, ob es sich bei einer seltsamen Wendung um ein offenes oder ein verstecktes Zitat handelte, er beschrieb die Flora und die Fauna, die verschiedenen Wirkungen des Lichts auf die Farben in der Wüste und auf den Mauern Jerusalems, er machte einen auf rhythmische Besonderheiten aufmerksam oder auf sprachliche Tricks. Wenn man so halbwegs begriffen hatte, worum es ging, begann man mit der Überarbeitung seiner deutschen Übersetzungen. Manche Zeilen gelangen auf Anhieb, andere blieben dunkel. Wenn er mit einem Vorschlag zufrieden war, ich aber nicht, wurde es zäh. Manchmal konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, was er meinte, obwohl er, gelegentlich auch ungehalten über mein bohrendes Nachfragen, so deutlich wie möglich formulierte. (…) Am Ende (…) war er so müde, dass er sich auf meinem Sofa ausstreckte und sofort in einen tiefen Schlaf fiel.
Den manchmal heftig ausbrechenden Streit um das richtige Wort (und die richtige Bedeutung) durfte ich nicht besserwisserisch entscheiden, wusste ich doch, dass David Rokeah einen Großvater hatte, der in kabbalistischen Dingen beschlagen war und sich auch mit Malerei und Baukunst beschäftigte: »Seine Vorstellung von der Baukunst gewann er vor allem aus der Bibel und aus dem Talmud, der den Bauplan des Tempels zu Jerusalem genau beschreibt. Diesen Tempel malte er, und es war sein Ehrgeiz, ihn so naturgetreu wie möglich wiederzugeben. Ich erinnere mich noch deutlich der kleinen Brücke, die auf seinen Bildern in den Tempel führte. Über diese Brücke bin ich nach Israel gekommen.« Man braucht also auch im Deutschen ein Schibboleth, um Eingang in den Tempel zu finden. In einem Interview mit dem Zürcher Tages-Anzeiger sagte Rokeah dazu: »Es gibt im Hebräischen viele Ausdrücke, für die wir keine Übersetzung ins Deutsche bereit haben.« Also mussten sie in stundenlanger Arbeit gefunden werden. Am Ende dieser seltsamen Übersetzerei lag sein Werk in sieben Bänden in deutscher Sprache vor und war – jenseits der individuellen Entwicklung des Autors – von einer verblüffenden Einheitlichkeit.
Ebd. S. 131f
Kategorie: Hebräisch, IsraelSchlagworte: Agnon, Übersetzung, Baukunst, David Rokeah, deutsch-israelischer Literaturdialog, Erich Fried, Exilliteratur, Fremdheit, Galizien, Gedichte aus Israel, Glaubensverlust, Hans Magnus Enzensberger, Hebräisch-Deutsch, hebräische Dichtung, israelische Lyrik, jüdische Identität, jüdische Lyrik, Jüdischer Verlag, Jerusalem, Kabbala, Lemberg, Lwiw, Michael Krüger, Nelly Sachs, Nobelpreis für Literatur, Palästina, Paul Celan, religiöse Metaphern, Rokeah, Samuel Joseph Agnon, Schai Agnon, Schibboleth, Suhrkamp, Tempel zu Jerusalem, Wüste, Wüstensymbolik
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