Ist das der Blödsinn?

595 Wörter, 3 Minuten Lesezeit

Ich konnte in den beiden letzten Tagen den literarischen Nachlass von Irmgard Senf durchsehen, der Gartenarchitektin und Autorin aus Sassnitz, die im Mai im Alter von 90 Jahren gestorben ist (1.5.1935 – 30.5.2025). Bis zuletzt rege und neugierig, neuste Bücher verfolgend, sass sie an zwei literarischen Projekten, einem neuen Gedichtband und autobiografischer Prosa. Ein Schreibtisch im Arbeitszimmer und einer im Wohnzimmer, beide übervoll mit wohl Hunderten Manuskripten und Notizzetteln, Büchern, Zeitungsausschnitten. Auf dem einen Tisch in der Mitte aufgeschlagen das „Poesiealbum 17 – Friedrich Hölderlin“ (1969) mit dem Gedicht „Abendphantasie“.

Ich durfte ein paar Bücher aus ihrer hervorragenden Bibliothek mitnehmen, darunter das hier links neben Hölderlin liegende von Ezra Pound, ebenfalls 1969, aus dem ich das heutige Gedicht auswähle.

Ein bemerkenswertes Buch. Auf dem Einband steht:

Ezra Pound:
Der Revolution
ins Lesebuch.
«So wurde das
deutsche Hochschul-
und Universitäts-
wesen … vom Ziel der
Wahrheitsfindung…
abgelenkt und in
einen Mechanismus
verwandelt …“
Ezra Pound (1932)
Die Arche

(Das Pound-Zitat der Einbandseite geht so weiter: „… verwandelt, der dazu bestimmt war, das denkende Segment des Volkes von der Beschäftigung mit aktuellen Problemen abzuhalten.“)

Eins der Gedichte, die sie angekreuzt hat.

Ezra Pound 

(* 30. Oktober 1885 in Hailey, Blaine County, Idaho; † 1. November 1972 in Venedig)

IST DIES DER BLÖDSINN...?

Ihr wurdet gelobt, meine Werke
weil ich frisch vom Lande hereinkam;
Ich war zwanzig Jahre hinter der Zeit zurück,
so fandet ihr das Publikum bereit.
Ich verleugne euch nicht,
verleugne nicht eure Nachfahren.

Da stehen sie ohne putzigen Kunstgriff,
Da stehen sie und haben nichts Altertümliches.
Seht nur das öffentliche Befremden:

«Ist dies», sagt man, «der Blödsinn,
den wir von unsern Dichtern erwarten ?»
«Wo bleibt das Pittoreske?»
«Wo bleibt der Strudel der Gefühle ?»
«Nein! Sein erstes Werk war das Beste.»
«Der Ärmste hat seine Ideale verloren.»1

Anmerkung:

1] Niemand hat seine Kritik an den Mächten der Zeit klarer formuliert als Pound, den die Kritik als Esoteriker hinzustellen liebt. Die nun folgende Passage über die finanzielle Funktion der Fabrik ist ein klassisches Beispiel. (Originalanmerkung 1969)

Aus: Ezra Pound: Der Revolution ins Lesebuch. Deutsche Übersetzung und Dokumentation von Eva hesse. Zürich: Arche, 1969, S. 29.

Eva Hesse hat in diesem Band Ausschnitte aus den Gedichten und Cantos ausgewählt und mit aktualisierenden Überschriften versehen. Hier das vollständige Gedicht, aus dem obiger Ausschnitt stammt.

SALUTATION THE SECOND

You were praised, my books,
because I had just come from the country;
I was twenty years behind the time
so you found an audience ready.
I do not disown you,
do not you disown your progeny.

Here they stand without quaint devices,
Here they are with nothing archaic about them.
Observe the irritation in general:

“Is this,” they say, “the nonsense
that we expect of poets?”
“Where is the Picturesque?”
“Where is the vertigo of emotion?”
“No! his first work was the best.”
“Poor Dear! he has lost his illusions.”

Go, little naked and impudent songs,
Go with a light foot!
(Or with two light feet, if it please you!)
Go and dance shamelessly!“
Go with an impertinent frolic!

Greet the grave and the stodgy,
Salute them with your thumbs at your noses.

Here are your bells and confetti.
Go! rejuvenate things!
Rejuvenate even “The Spectator.”
Go! and make cat calls!
Dance and make people blush,
Dance the dance of the phallus
and tell anecdotes of Cybele!
Speak of the indecorous conduct of the Gods!
(Tell it to Mr. Strachey)

Ruffle the skirts of prudes,
speak of their knees and ankles.
But, above all, go to practical people—
go! jangle their door-bells!
Say that you do no work
and that you will live forever.

Aus: Ezra Pound: Personæ/ Masken. Gedichte. München: dtv, 1992, S. 122/124

5 Comments on “Ist das der Blödsinn?

  1. „Niemand hat Kritik an den Mächten der Zeit klarer formuliert?“ Blödsinn. Da gab es einige, etwa Brecht. Pound war Faschist. Er hat gute Gedichte geschrieben, hat Dichter und Dichterinnen gefördert, hat für chinesische Zeichen und chinesische Dichtung geschwärmt. Make it new! Das war sein Motto für Übersetzung, das ich immer wieder zitiere. Pound war und ist wichtig. Aber Pound war leider nicht unbedingt ein klarer Kritiker an den Mächten seiner Zeit. Er hat sich Mussolini angedient und für ihn Propaganda gemacht. Das sollte man nicht verschweigen, wenn man schon so etwas wie „Kritik an den Mächten der Zeit“ in Verbindung mit Pound erwähnt oder zitiert.

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    • Naja, wenn Sie diesen Satz im Kontext des Esoterikvorwurfs sehen und als rhetorisch verstehen, ist es nicht unbedingt “Blödsinn“. Die Wendung dient dazu, Ezra Pound als besonders klaren und scharfsichtigen Kritiker der „Mächte der Zeit“ hervorzuheben, nicht unbedingt als „den klarsten“, der er natürlich nicht war, ganz im Gegenteil: was er in seinen letzten Jahren übrigens selbst eingeräumt hat. Da war er auch Faschist und Antisemit, aber jedenfalls kein Esoteriker. Er hat auch seinen Marx und Lenin gelesen und zitiert sie auch. Vielleicht ein Lesebuch „Pound für 68er”?
      Sie dürfen im übrigen auch davon ausgehen, dass ich über die politischen Irrwege Pounds auch einiges weiß, auch wenn ich nicht alles was ich weiß in den beiläufigen Satz steckte. Ich halte aber die Aussage, Pound war ein Faschist, beim Reden über ein Gedicht von 1916 für wenig hilfreich. Bei der Auswahl von 1969 übrigens auch. Eva Hesse wollte einen alles andere als esoterischen Autor präsentieren – vom Verlag auch in den Kontext der 68er Bewegung gerückt mit dem Zitat auf dem Titel. Daran kann man auch viel kritisieren, aber dann im Kontext des ganzen Buches.

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  2. Im einsprachigen „Ezra Pound Lesebuch“, hg. Eva Hesse, Zürich 1985,
    S. 44f., steht „Gruß II“ ganz auf Deutsch.

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    • Ja, in der von mir zitierten zweisprachigen dtv-Ausgabe steht es natürlich auch komplett. Aber hier ging es mir um diese Ausgabe, die auf dem Schreibtisch von Irmgard Senf lag. Die hat ein interessantes – vielleicht auch problematisches – Prinzip, kleine Ausschnitte aus manchmal viel größeren Texten mit einer neuen Überschrift in einem neuen Kontext zu rücken. In diesem Fall geht es ja um den Vorwurf, Pound sei Esoteriker – dem die gesamte Ausgabe vehement widerspricht. Sie zitiert auch Clips aus den damals noch gar nicht auf Deutsch erschienenen Cantos XXXI-LI.

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