Caspar Hauser Lied

Kaspar Hauser war ein geheimnisvoller Findling, der 1828 plötzlich in Nürnberg auftauchte und angab, zuvor sein Leben isoliert in einem dunklen Raum verbracht zu haben. Sein Schicksal gab Anlass zu zahlreichen Spekulationen über seine Herkunft – vom Betrüger bis zum verschollenen Erbprinzen – und wurde zu einem Symbol für Verwahrlosung, Identitätssuche und das Verhältnis von Natur und Erziehung. Hier ein Gedicht von

Paul Verlaine 

(* 30. März 1844 in Metz; † 8. Januar 1896 in Paris)

in 2 deutschen Fassungen und im Original.

Deutsch von Wolf Graf von Kalckreuth

 (* 9. Juni 1887 in Weimar; † 9. Oktober 1906, 19jährig, in Stuttgart-Cannstatt)

Caspar Hauser singt

Als schlichter Waise, reich genug
An meiner Augen stillem Scheine,
Kam ich zur Stadt, fremd und alleine,
Die Männer fanden mich nicht klug.

Mit zwanzig Jahren wurde ich
Im Feuer der verliebten Sinne
Der Weiber süsser Schönheit inne:
Doch freilich schön fand keine mich.

Wenn auch in keines Königs Sold,
Ich Heimatloser Ruhm erworben,
Wär' gern ich doch im Krieg gestorben,
Doch hat der Tod mich nicht gewollt.

Kam ich zu früh, kam ich zu spät
In diese Welt voll herber Trauer?
Was soll mir, ach, des Lebens Dauer?
Denkt an mich Armen im Gebet!

Aus: Wolf Graf von Kalckreuth, Gedichte und Übertragungen. Heidelberg: Lambert Schneider, 1962

Deutsch von Paul Wiegler

(* 15. September 1878 in Frankfurt am Main; † 23. August 1949 in Ost-Berlin)

Kaspar Hauser singt.

Ich kam verwaist und ohne Lug
Zur grossen Stadt mit stillen Augen,
Ob ich den Leuten mochte taugen:
Sie fanden mich nicht schlecht genug.

Und als ich zwanzig Jahre alt
Trieb mich ein sonderbares Grauen
Man nennt es Liebe, zu den Frauen:
Sie fanden, ich sei ungestalt.

Ein Heimatloser nahm ich Sold
Und liess mich für den König werben,
Ich wollte dort im Kriege sterben:
Der Tod, er hat mich nicht gewollt.

O lebe ich zu früh, zu spät?
Was soll ich in der Welt beginnen?
Mein Alles muss in Pein verrinnen;
O sprecht für Kaspar ein Gebet!

Aus: Baudelaire und Verlaine. Gedichte . Übertragen und eingeleitet von Paul Wiegler. Berlin 1900

Das Original

Gaspard Hauser chante :

Je suis venu, calme orphelin,
Riche de mes seuls yeux tranquilles,
Vers les hommes des grandes villes :
Ils ne m'ont pas trouvé malin.

À vingt ans un trouble nouveau,
Sous le nom d'amoureuses flammes
M'a fait trouver belles les femmes :
Elles ne m'ont pas trouvé beau.

Bien que sans patrie et sans roi
Et très brave ne l'étant guère,
J'ai voulu mourir à la guerre :
La mort n'a pas voulu de moi.

Suis-je né trop tôt ou trop tard ?
Qu'est-ce que je fais en ce monde ?
Ô vous tous, ma peine est profonde :
Priez pour le pauvre Gaspard !

One Comment on “Caspar Hauser Lied

  1. Die Übertragung von Hannelise Hinderberger (1959) endet mit:
       „Was ich hier soll, ist mir nicht faßbar.
        […]
        O betet für den armen Kaspar!“

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