Neue Himmel für alte

Zum 100. Todestag erinnern wir an Amy Lowell – eine der bedeutendsten Stimmen des amerikanischen Imagismus. Ihre Gedichte verbinden präzise Bilder mit leidenschaftlicher Formsuche und einer oft übersehenen queeren Perspektive.

Aber stimmt das im einzelnen Gedicht, das man vor sich hat? Ich habe ein Gedicht herausgesucht, das Claire Goll für ihre Sammlung „Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik“ von 1921 übersetzt hat.

NEUE HIMMEL FÜR ALTE

Ich bin überflüssig,
Mein Tun unnütz.
Was ich denke, ist ohne Duft.
Es hängt ein Almanach zwischen den Fenstern
Aus dem Jahr meiner Geburt.

Die Kameraden rufen mich,
Sie schrein nach mir,
Wenn sie am Haus im großen Wind roter Fahnen vorüberziehn.
Frisch sind sie, sprühend.
Sie sind unanständig und brüsten sich damit;
Sie lachen und fluchen und lärmen
Und schmettern ihr: »Wer kommt mit?«
Gegen die eiserne Häuserfront an beiden Straßenecken.
Junge Männer mit nackten Herzen spotten zwischen den
eisernen Häusern,
Junge Männer mit nackten Körpern unter den Kleidern,
Leidenschaftlich bewußt ihrer selbst,
Bereit, ihre Kleider fortzuschleudern,
Bereit, ihre Sitten und täglichen Gewohnheiten fortzuschleudern,
Schrein nach der Roheit des Lebens
Voll Gier nach Liebe,
Die sie als Glaube proklamieren.
Anbeter der Jugend,
Anbeter ihrer selbst.
Sie rufen nach Frauen, und die Frauen kommen.
Sie entblößen ihre weiße Wollust
Vor der erstarrten toten Häuserfront.
Gleich Flammen brausen sie die Straße herunter;
Sie explodieren wie wildes Feuerwerk
Über den Häuserleichen.

Und ich –
Ich ordne drei Rosen in einer chinesischen Vase:
Eine rosa,
Eine rote,
Eine gelbe.
Ich nehme dies Arrangement sehr wichtig.
Dann sitz ich in einem Südfenster,
Nippe von bleichem Wein mit etwas Schierling,
Denke über Winternächte nach,
Und Feldmäuse kreuzen den Fleck,
Der bald mein Grab sein wird.

Aus: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik. Hrsg. u. übersetzt von Claire Goll. Berlin: S. Fischer, 1921. 1.-3. Aufl., S. 44f

NEW HEAVENS FOR OLD

I am useless.
What I do is nothing,
What I think has no savour.
There is an almanac between the windows:
It is of the year when I was born.

My fellows call to me to join them,
They shout for me,
Passing the house in a great wind of vermilion banners.
They are fresh and fulminant,
They are indecent and strut with the thought of it,
They laugh, and curse, and brawl,
And cheer a holocaust of "Who comes firsts!"
at the iron fronts of the houses at the
two edges of the street.
Young men with naked hearts jeering
between iron house-fronts,
Young men with naked bodies beneath their clothes
Passionately censcious of them,
Ready to strip off their clothes,
Ready to strip off their customs, their
usual routine,
Clamouring for the rawness of life,
In love with appetite,
Proclaiming it as a creed,
Worshipping youth,
Worshipping themselves.
They call for women and the women come,
They bare the whiteness of their lusts
to the dead gaze of the old house-fronts,
They roar down the street like fame,
They explode upon the dead houses like
new, sharp fire.

But I –
I arrange three roses in a Chinese vase:
A pink one.
A red one,
A yellow one.
I fuss over their arrangement.
Then I sit in a South window
And sip pale wine with a touch of hemlock in it,
And think of Winter nights,
And field-mice crossing and re-crossing
The spot which will be my grave.

Aus: The Complete Poetical Works of Amy Lowell. With an introduction by Louis Untermeyer. Boston: Houghton Mifflin Company. The Riverside Press Cambridge. O.J. (1955) S. 574

Ist das die melancholisch-erhabene Selbstbehauptung einer Außenseiterin – oder eher sarkastisch gebrochene Selbstdemontage einer Figur, die sich mit kultivierter Bedeutungsschwere vor dem pulsierenden Leben rettet? Melancholische Gegenwelt zur entfesselten Energie einer ekstatischen Jugend oder Abrechnung mit der eigenen Unfähigkeit? Kontemplative Würde oder feine Selbstironie? Verleugnung ihrer imagistischen Jugend oder ein feiner Nachhall?

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