97. Wir halten / das offene Ohr an die Erde, / sehr schwach

Roland Erbs neuer Gedichtband „Trotz aller feindlichen Nachricht“ hätte auch den einfachen Titel „Ausgewählte Gedichte“ tragen können. Doch fanden der Autor und die Herausgeber einen besseren: Sie nahmen die Überschrift eines Gedichts und formten diese zum Standpunkt, von dem aus der Leser einen renitenten Blickwinkel auf die Textinhalte gewinnen kann; auch wenn das gleichnamige Gedicht gar nicht im Zentrum des Bandes steht.

Für „Ausgewählte Gedichte“ spricht die Versammlung von Texten aus verschiedenen Schaffensperioden Erbs; einige Texte erschienen bereits in den beiden Vorgängerbänden „Die Stille des Taifuns“ (Aufbau-Verlag, 1981) und „Märzenschaf“ (Hellerau-Verlag, 1995). Die Gedichte sind auf sechs titellose Kapitel verteilt; hier finden diese thematische und stilistische Schnittpunkte, ohne jedoch streng sortiert zu sein. Auf die Entstehungsdaten oder eine chronologische Ordnung wurde verzichtet, doch Erbs Gedichte fassen oftmals Fuß im Zeitgeschehen der letzten Jahrzehnte, so dass dies eine bewusste, vielleicht sogar schwere Entscheidung gewesen sein muss. Für ein Kind der 90er Jahre erfordert es ohnehin einige Mühe, den Ernteeinsatz im märkischen Sand (S.10) oder das Gefühl der Verfremdung einer alten, geliebten Kopfsteinpflasterstraße durch Asphaltierung und gesprengte Gebäude (S.11) nachzuempfinden. Doch die Gedichte Erbs verorten und verzeitlichen sich meist von selbst oder legen willentlich falsche Fährten. Hier liegt eine Stärke des Bandes: Nach Abschluss der Lektüre gewinnt der Leser unweigerlich an (Fremd-)Erfahrung dazu.

Schnell fiel das Gedicht „Walpurgis“ in meinen Blick; Jan Kuhlbrodts Hinweise am Ende des Bandes, insbesondere auf die Stadt Nordhausen und deren Historie, das Kyffhäuser- und eben jenes Harzgebirge mit dem Brocken als sagenhaften Ort der Walpurgisnacht, führten dazu. Hier wuchs der 1943 geborene Roland Erb auf, legte das Abitur ab und ging anschließend zum Studium nach Leipzig.

Im gewendeten Besenschrank steht
mein unerwarteter Stoßtrupp,
der springt staubdürstend durchs Zimmer,
stößt mich, klopft mich, entführt mich,
wirbelt hinaus […] (S. 14)

So beginnt „Walpurgis“. Das Schrankinventar zieht zum Blocksberg und es wird nicht deutlich, ob es auf seinem Weg „geflutete[…] Straßen“ , den „Lärm“ und das „zerfetzte[…] Gebein“ erzeugt oder eben „staubdürstend“ seinem Verwendungszweck nachgeht und jeglichen Tumult bereinigt. Letztendlich erweist sich die Erscheinung als „Trugbild“ . Das Gedicht bleibt in der Schwebe zwischen Zerstörung und Erneuerung.

Wie in vielen von Erbs Gedichten hat man das Gefühl, das dichterische Ich sei dem Autor sehr nah, als gewinne man einen persönlichen Eindruck, als webe man sich beim Lesen in die Privatsphäre eines anderen. Die Texte tändeln zwischen Aufbruch und dem Zurücklassen, ohne dabei Ruhe zu finden. Aufbruchsangst und -hoffnung spuken ebenso durch Erbs Gedichte wie die Bilder der Vergangenheit.

Der Leser hat mit dieser Sammlung die Chance, sowohl das Vergangene als auch dessen Abbild in der Gegenwart, dessen Auf- und Abtauchen an neuen und wiederbesuchten Orten wahrzunehmen. Die Sprache ist stets einfach gehalten, verfällt selten in hohe Töne und wandelt zwischen einer Fülle von Stimmen umher, deren Spektrum dabei über brausend, sanft oder beschwingt weit hinaus reicht, so dass man oft gewillt ist, die eigene in diesen Stimmen entdecken zu wollen, allen „feindliche[n] Nachrichten“ zu trotzen. Spätestens bei dieser Erkenntnis erspürt man die Übersetzertätigkeit Erbs, seine Fähigkeit, einen eigenen vielseitigen Ton zu schaffen und immer den passenden zur Vermittlung des Inhalts zu wählen.

Einige Texte enthalten derart präzise Beobachtungen, dass diese nahezu als Vorahnungen verstanden werden müssen oder in solchen gipfeln, wie z.B. in dem Gedicht „Die Beobachtung“ :

Du, diese Geste
des Zigarettenanzündens,
als gäb es nur das,
wenn etwas hell, etwas finster,
wenn etwas unwiderruflich vorbei.
Du, diese Geste, die Geste,
als gäb es nur das, ach,
als gäb es nur das! (S. 76)

Es ist schwer, in wenigen Zeilen die reichhaltige Lyrikproduktion eines Autors über vier Jahrzehnte hinweg auf den Punkt zu bringen. Genau aus diesem Grund liegt uns nun Roland Erbs neuer Gedichtband mit einem guten Umfang von 124 Seiten vor. Zu loben ist dabei auch die Gestaltung des Buches. Ein robuster, orangefarbener Einband umfasst die kräftigen Seiten. Haptisch ansprechend und schlicht ansehnlich ist der von Miriam Zedelius entworfene Umschlag.

Ein beachtenswertes Gedicht ist dem Band vorangestellt. Zum Glück fehlt auch hier eine Entstehungszeitangabe; der zarte Ton könnte seinen harschen Gehalt sowohl in den 1980ern als auch in den letzten Wochen empfangen haben.

Das Ohr

Wir halten das offene Ohr
an die Erde, sehr schwach
dringt ein Beben herauf
wie von hastig stampfenden Hämmern
weit über Land oder
Panzerketten, die blindwütig
Dörfer einebnen, wir halten
das offene Ohr an die Erde,
sehr schwach (S. 5)

Christoph Georg Rohrbach
Greifswald, 16. September 2014

Roland Erb: Trotz aller feindlichen Nachricht. Gedichte. Hrsg. von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt und Ralph Lindner (Reihe Neue Lyrik, Bd. 7). Leipzig (Poetenladen) 2014. 128 S., 16.80 Euro.

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